Music

July 29, 2014

“Keine finalen Zustände, außer genau JETZT” – Air Cushion Finish beim sinstruct Festival

Judith Ralser
Bevor am 7. August 2014 das sinstruct Festival beginnt, wollen wir über einige der Bands und KünstlerInnen Bescheid wissen, die dort auftreten werden. Und als erstes vorgenommen haben wir uns die Berliner Band Air Cushion Finish.

Sie spielen beim sinstruct festival 2014 (7.–10.8. in Unsere Liebe Frau im Walde am Gampenpass: Air Cushion Finish. Und sie waren für mich ein Rätsel. Eine Band aus Berlin. Nie gesehen. Nie gehört. Homeopathic punk? Was soll denn das sein? Warum also nicht nachfragen und der Neugierde die dringend benötigten Antworten liefern? Das Ergebnis ist ein Interview, in dem es um viel mehr geht als reine Definition – nämlich um Musik, die man nicht wirklich einordnen kann; Experimentierfreude und Neugier; ein Schuss von allen denkbaren Musikrichtungen; Freude am Spielen, an der Improvisation.

Seit wann gibt es Air Cushion Finish? Wie sind die Band und der Name entstanden?

“Air Cushion Finish” (der Schreibfaulheit weiterhin ACF) wurde als Name ab 2006 benutzt, nachdem ich (als jayrope) die Kartentricks meines damaligen Berliner Mitbewohners Blake Worrell genoss. ACF bedeutet “Luftkissenbeschichtung”, welche z. B. bei Pokerkarten benutzt wird, um sie mit weniger Widerstand übereinander gleiten lassen zu können. Mehr Flüssigkeit beim Spielen.
jayrope brachte dann zuerst ein Soloalbum names “Leipzig” unter dem Moniker ACF heraus; extrem verlangsamter, oft instrumentaler Postfolk, vergriffen. 2007 kam Lippstueck als Partner hinzu, eine Stimme wie nicht von dieser Welt und mit Elektronik, keine Chance auf Routine. Weitere Musiker, namentlich Olaf Hilgenfeld (z. B. auf “Spree”), Gatis Silde und Etkin Cekin, sind Freunde und für uns gerne immer wieder Spielpartner.Eure Art, Musik zu machen, wird manchmal abwertend “homeopathic punk” genannt, das Original aufgelöst in den ständigen Nachahmungen und eigentlich nichts mehr von “echtem” Punk übrig. Wie geht ihr mit dieser Meinung um? Stört es euch oder seid Ihr stolz darauf – schließlich verweist ihr auf eurer Website auf diese Bezeichnung?

“Homöopathischer Punk” sagen wir wertfrei – oder latent positiv – und nur, um in Kürze einen Teil des Charakters der Musik zu beschreiben. Im Grunde benutzen wir aber “Punkrock” stellvertretend für Musik, die elektrisiert und sich zumindest in den Vorstadien (Stoodges) und Anfängen (X-Ray Spex – “deliberate underachievers”) kaum selbst verleugnete. Diese Musik war unpassend. Es könnte also auch Free Jazz oder Rock’n'Roll gewesen sein, oder Techno 1989, oder elektroakustische und synthetische Musik aus den 30ern bis 50ern. Oder mongolische Musik. Oder Musik von Pygmäenvölkern.
Die nahezu komplette Improvisation der Musik unsererseits, der Spaß am Mischen von “Was-immer-Dir-jetzt-einfällt”, Musikstilen, Texten oder anderweitig Vokalem, am Instrumentenbau – wir suchen Motoren für Spielfreude und Entdeckungslust. Auch gerne abseits konventioneller Bühnensituationen, deren immer gleicher Aufbau unter anderem lediglich wie die logisch-hierarchische Präsentation gleichförmiger Musikorganisation erscheint. Aber sicher nicht wie Musik selbst. Goebbels und das Publikum im Sportpalast, “wollt ihr den Totalen Krieg?”, die jubelnd-betäubte Zustimmung des “Publikums”, welches freiwillig in glücklich-willenloser Sklaverei verharrt. Idiotisch. Brot und Spiele. Angst, bloß keine Verantwortung übernehmen. Fußballweltmeisterschaft, Irrsinn. Freiwillig oder unfreiwillig politische Betäubungsrituale. Nein, danke.
Wir bleiben gerne wach, fragend, neugierig, zugeneigt und in Bewegung. Milliardenfach verdünnter Punk muß ja, anfänger-homöopathisch gesehen, noch viel effektiver rocken, als wenn’s eins zu eins vor einem abläuft. Spannung und Bewegung halten, auch wenn es sehr langsam wird. Wenn man nicht scheintot ist, sind Stimmungen nicht per se schön, aber doch per se intensiv, also kann man damit arbeiten, sie sind die Musik vom Jetzt.Air Cushion Finish, image by Jean Marie DhurAir Cushion Finish, image by Jean Marie Dhur

Wie würdet ihr eure Musik in einem einzigen Satz beschreiben?

Was würdest du sagen, wenn du kaum Vergleiche ziehen möchtest oder einfach keine findest, die (zu) dir passen? Also homeopathic punk.

Was macht die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern in Biesenthal so besonders?

Wir betreiben Biesentales Records ausschliesslich als Plattform zur Kleinserienveröffentlichung von in Biesenthal auf dem Gelände des Wokule e. V. entstandener Musik. Air Cushion Finish arbeiten gerne mit großartigen Geistern, und wir alle sind nicht nur in Biesenthal aktiv, aber auch sehr gerne und mit sehr viel Rückhalt von dort.

Wieso habt ihr euch entschieden, eure Alben nur online oder in limitierter Zahl zu verkaufen? 

Reine online Alben oder limitiierte Alben sind nicht gerade das Resultat von Entscheidung, sondern einfach dessen, was bisher passierte. Wir mögen wohl generell Dinge und Lebenszustände, die sich entwickeln und auch vergehen – und halten andererseits Permanenz für einen maximal theoretischen, also toten Zustand, der niemandem eine Utopie sein sollte. Aus dem Bedürfnis nach Permanenz spricht meist nur Unwilligkeit oder Angst, sich mit dem Unbekannten zu beschäftigen. Wir möchten uns gerne ständig wieder neu faszinieren lassen und genau das auch anderen nahelegen. Konzerte sind da sehr viel wichtiger, als die Veröffentlichung bereits vergangener Musik. Wir veröffentlichen also vor allem, um Leuten etwas mit nach Hause zu geben. Da ständig Neues entsteht, erscheint es nur gut, wen man dem auch immer wieder absichtlich Platz macht.

Wie arbeitet ihr euch von ersten Ideen bis zu den finalen Versionen eurer Lieder vor?

Gar nicht in diesem Sinne. Auch machen wir gerne Fehler. Das Ganze ist eine permanente Transformation, und von vielen Sachen, die sich gleichzeitig in verschiedenen Stadien befinden. Es entstehen keine finalen Zustände, außer genau JETZT, und die Anfänge liegen oft im Dunkeln.Ihr wart vor kurzem auch in Kanada. Wie viele Ideen bringt ihr von dieser Reise mit? Darf man erwarten, dass in Kürze Lieder von dieser Reise handeln, oder zumindest darauf verweisen, sei es als Thema, als auch durch musikalische Einflüsse?

Dank der Aufnahmen im Juni 2014 mit dem großartigen Thierry Amar im Hotel2Tango Studio in Montreal als auch mit dem ebenfalls großartigen Nick Kuepfer in seiner Cabin haben wir Ideen realisiert, von denen wir wie immer vorher nicht wussten, daß wir sie überhaupt haben. Splendid! Ob es direkte Bezüge darauf in zukünftiger Musik geben wird, können wir nicht sagen. Doch sechs, sieben Stunden Musik wollen erst einmal mit Abstand gehört werden. Am Rande bemerkt ziehen wir es weiterhin in Zweifel, ob es (für uns) wirklichen Sinn hat, in einem Studio wie Hotel2Tango, und dort – bis auf 3 Stunden – ohne Publikum aufzunehmen. ZuhörerInnen sind für uns eine wesentliche Basis, den jetzt genau hier vorhandenen Gedanken über die ganze Zeit eines Konzertes zu verfolgen – und dann eben auch zu beenden. Es ist uns unwichtig, uns mit dem Namen eines bekannten Ortes zu schmücken und nebenbei bemerkt halten wir uns oft gerne von typischen Vermarktungsmechanismen der Unterhaltungsindustrie frei. Das Ganze hat auch einen nicht unwesentlichen Preis – und das sind Mittel und Energien, die z. B. uns und unserem sozialen Umfeld im Zweifelsfalle fehlen, aber nicht sollten. Wir bekamen eine tolle persönliche Unterstützung von unseren Fans im Vorfeld der Reise! Und es ist sehr inspirierend, mit Leuten zu arbeiten, die einfach wissen, was sie machen, die irre gut sind und die ein großes Vertrauen haben – und das an einem Ort, der Bands wie Timber Timbre und GY!BE, Balck Ox Orkestar oder Silver Mt. Zion ebenfalls inspirierte. Sicher wird es Medien geben.

Was können sich BesucherInnen des sinstruct Festivals von Eurem Auftritt erwarten?

Dass wir wissen, was wir tun, und warum. Italo-Western, vastehste?

Was erwartet ihr euch selbst?

Dito.

Air Cushion Finish auf Bandcamp.

Foto oben: Dascha Zorkina

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