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March 19, 2014

Tschick – mit Lutscher im Mund auf Tanke

David Thaler
Aktuell das wohl meist gespielte Stück an deutschsprachigen Theatern: "Tschick" nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf († 26. August 2013) – Bühnenfassung erarbeitet von einem seiner engsten Freunde Robert Koall. – "Zwei Jungs klauen ein Auto. …den Plot hatte ich in wenigen Minuten im Kopf zusammen" – Zitat W. Herrndorf, FAZ

Die Geschichte von den zwei vierzehnjährigen Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, kurz Tschick, von Wolfgang Herrndorf, hat seinen Weg vom 2010 veröffentlichten Jugendroman, über die Hörbuchproduktion des Verlags Argon hinaus, letzten Endes auf die Bühne gefunden. Der Roman wurde über Mundpropaganda der begeisterten LeserInnen deutschlandweit bekannt, schaffte es fulminant auf die deutsche Bestsellerliste und ist seit Herbst 2013 in kleinen und großen Theatersälen – auch außerhalb der Bundesrepublik – zu bestaunen. Derzeit ebenfalls im Pippo Stage in Bozen am Freitag 21. und Samstag 22. März. Der Stoff des Stücks, findet großen Anklang bei der “Next Generation”, die in vielerlei Hinsicht die Gefühlswelt und Gedanken der zwei Hauptfiguren selbst irgendwie auf die eine oder andere Weise nachleben bzw. noch werden, und den Stress mit den Gegenfiguren im Stück (Eltern, Lehrer etc.) nachvollziehen können. Zustimmung und Beifall kommt genauso aus den Reihen der Erwachsenen oder gar etwas betagteren Herrschaften. Das war vergangenen Samstag bei der Aufführung in Bozen und im Gespräch mit Freunden, die sich das Stück einfach “geben” mussten, jedenfalls mein Eindruck. Dass man sich als Erwachsener so stark emotional an die Geschichte binden lässt, liegt sicherlich an der Authentizität der Geschehnisse. Es ist eine einfach gestrickte Geschichte, wie sie sich nicht nur in einer Stadt wie Berlin zuträgt. Die aus dem Alltag  gegriffenen Situationen (Schule, zu Hause, unterwegs mit Freunden im Gespräch) besitzen für sich eine fast schon klischeehafte Allgemeingültigkeit. Die Faszination und der Erfolg der Geschichte der zwei Jungs, die im Sommer nach Zeugnisvergabe mit dem von Tschick gestohlenen Lader eine Spritztour in die Vorstadtwildnis bzw. Pampa um Berlin unternehmen, um einfach mal ein aufregendes Abenteuer zu erleben, liegt schlicht im natürlichen Ausleben des grundeigenen Wesens und im sich spontanen Einlassen auf Dinge, die sich einfach manchmal ergeben – was hauptsächlich Kindern und Jugendlichen eigen ist. Erwachsene haben diese Eigenschaften zumeist großteils verloren; weil die Erwachsenenwelt stark in “ja und nein”, “schwarz und weiß”, “das geht und das geht nicht” einteilt, und Dinge zerredet und sie an zig Umständen festnageln will, um alles in vorgefertigte Schubladen hinein quetschen zu können. Zuallerletzt dies jedoch nur hirngespenstische Selbst-Auferlegungen sind, die die Erwachsenen selbstbemitleidend und krampfhaft insgeheim der Gesellschaft zuschreiben. – Und sich wie Mutter Klingenberg im Stück, dann und wann, in einem schwachen Moment eingestehen, dass das Haus mit Schwimmbad und fünf Bädern und die Modedesigner-Kleidung nichts bedeuten, wenn man selbst nicht imstande ist glücklich zu sein. Und: ‘”was die Leute denken, ist scheissegal!”, so Frau Klingenberg zu ihrem Sohn. Tschick - VBB - Sabine WeisseneggerMaik (Marco Schaaf) und Tschick (Hanno Waldner) lassen uns begreifen, wie messerscharf und aalglatt ihr Verstand ist und wie unverblümt ehrlich sie sind. Weil sie die Welt sehen, wie sie ist, ohne sich im Kopf neurotische Selbstinszenierungen zu erschaffen. Die beiden zeigen damit auf, was die “großen Menschen” um sie herum verloren haben. Beispiel: Als Maik in der Schule den skandalträchtigen Offenbarungsaufsatz über seine Mutter und deren Therapien in der nett umschriebenen “Beauty Farm” vorliest, empört sich Frau Lehrerin Schürmann in schrillem Tonfall: “Maik, das ist deine Mutter! Hast du da schon mal darüber nachgedacht!?” Und Maik darauf: “Ja, ist mir irgendwie schon klar, dass meine Mutter meine Mutter ist.” Erwachsene verbieten sich gewisse Dinge offen auszusprechen. Moral und Sitte besagen: Man darf doch so über seine Mutter nicht reden.  Ferner beweisen die Jungs eine kühne und unvermittelte Art weitläufig anerkannte No-Go’s bzw. heikle Themen oder Tabus direkt aufzugreifen und “Null Problemo” in den Raum zu stellen. Auf Tschicks Frage, ob Maik denn schwul sei, weil er ihn auf ironische Weise Liebling genannt hatte, kommt ein lautes “WAAAAS!” und dann bald der Beweis dafür, dass er es nicht ist, weil er ja auch, wie alle anderen Klassenkameraden, voll in Tatiana verknallt ist und wochenlang mühevoll an einer Zeichnung für sie gearbeitet hat.

Ein Großteil der Menschen würde sich hierbei nicht verpflichtet fühlen, einen solchen Beweis abzuliefern, sich also nicht rechtfertigen, was im Grunde eines jeden Recht ist. “Kein Kommentar” ist klarerweise einfacher. Aber Kinder tun so etwas einfach – das Gegenteil beweisen. Sie reagieren und handeln anders: naiver, schamloser, bedenkenloser, vertrauensseliger, gutgläubiger, KINDSköpfiger. Genau dieser Anblick oder derartige Szenen erfüllt den erwachsenen Zuschauer mit Freude und nimmt ihm zugleich die Angst. Die Angst vor der Welt, der Gesellschaft, dem Versagen. Im selben Maß wie Maik und Tschick während ihres Road-Trips draufkommen, dass die Welt und die Leute gar nicht so schlimm sind, und viel Gutes passiert, wenn man sich seinem Gegenüber öffnet und respektvoll begegnet. Der Imperativ “Trau keinem Fremden!” verliert für die Jungs an Gültigkeit. Der beste Beweis ist Isa, die gleichaltrige weibliche Bekanntschaft, die ihr Versprechen hält, obwohl ihr äußerlich verwahrloster Eindruck etwas anderes als Vertrauenswürdigkeit erwarten lassen dürfte. Tschick - VBB - Foto: Sabine WeisseneggerHerrlich anzugucken sind ebenfalls die Erwachsenenfiguren im Stück. Da sie einen idealen Kontrast zur “Jetzt-mach-mal-locker-Alter”-Haltung der Jungs bilden und klar offenlegen, dass sich der ganze emotionale Müll über die Jahre meistens eher nur anhäuft und dazu im Vergleich nur recht selten entleert. Alkoholismus und gescheiterte Beziehungen, weil man sich gegenseitig nicht zuhört oder nicht miteinander über alles reden kann; nicht aufgearbeitete Kindheitstraumata und nie überwundene Verluste. Der Spiegel der Seele wird dem bereitwilligen Zuschauer in diesem Stück auf harmlose und sogar freudige Art vors Gesicht gehalten. Es ist endlich einmal ein Bühnenstück, wo man wirklich etwas Greifbares mit nach Hause nimmt, ohne sich angegriffen zu fühlen. Kein großer Klassiker aus vergangenen Tagen, mit kopflastigen Versen in Situationen, die heute so nicht mehr vorkommen und dessen Theaterbesuch nach intensiver Vorbereitung und Studium schreit. Nein. Einfache Theaterkost für jedermann und jede Frau, jeden Alters, jeder Hautfarbe – und egal, was wir sonst noch für Einteilungen erfunden haben. Ganz im Sinn des Stücks – jüdische Zigeuner oder Zigeunerjuden – gibt’s so was??? Wenn ihr die gedanklichen Ausklügelungen dazu hören wollt, dann geht einfach hin und schaut euch das an. 

Mein Fazit: Fernsehen ist manchmal auch ganz nett, aber das hier ist simply sehenswert. Im Übrigen wartet eine tadellose schauspielerische Darbietung auf die Zuschauerschaft und im Besonderen überwältigt Peter Schorn in der raschen Wandlung zwischen seinen fünf grandios-genuin-verkörperten Figuren. 

Infos zu den Aufführungen auf der VBB-Website www.theater-bozen.it. Am 21. und 22. März 2014 um 20 Uhr im Jugendzentrum Pippo Stage. Für alle LehrerInnen: Schulaufführungen bis Anfang April immer um 10 Uhr am Vormittag. 

Alle Fotos: Sabine Weissenegger, VBB

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