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February 17, 2014

“Vielfalt ist die einzige Wahrheit” – Paola Marcellos Fotoprojekt “Ich lebe”

Kunigunde Weissenegger

Paola Marcello ist Fotografin und lebt in Meran. Nach Abschluss ihrer Ausbildung zum “Master di Reportage” an der John Kaverdash School in Mailand hat sie sich ganz der Reportagefotografie gewidmet. Ihre Fotoreportage über Palästina “Vita oltre un muro” war 2009 Teil des Fotografie-Festivals im MART in Rovereto. Ihre letzten größeren Projekte waren 2011 “Die neuen Meraner | I nuovi meranesi” in Meran und 2012 “Kaufmannsgeschichten | Storie di commercianti” mit Geschäftsleuten aus ganz Südtirol. Zur Zeit arbeitet sie an einem Portrait- und Geschichtenprojekt mit Meraner Frauen aus verschiedenen Kontinenten und an einer Fotodokumentation über Menschen mit Altersdemenz. 2013 hat sich die Meraner Fotografin in Zusammenarbeit und mit der Unterstützung der Lebenshilfe Südtirol intensiv mit Menschen mit verschiedensten Bedürfnissen beschäftigt und zum einen mehrere Workshops für sie veranstaltet und sie zum anderen für das fotografische BegegnungsprojektIch lebe – Io vivo” portraitiert. Impuls für das Projekt war ihre Neugierde gegenüber dem Unbekannten. Wir wollten von ihr mehr über die Ausstellung erfahren, die bis Freitag, 21.2.2014 in der Stadtgalerie Bozen zu sehen ist. 

Annemarie - Io vivo - Paola MarcelloAnnemarie

Annemarie - Ich lebe - Paola MarcelloAnnemarie

Wie kam es zum Fotoprojekt “Ich lebe – Io vivo”?

Paola Marcello: Hier möchte ich vorwegnehmen, dass ich die Fotografie dazu nutze, soziale Themen und somit Menschen in den Mittelpunkt einer Geschichte zu stellen. Bei diesem Projekt im Besonderen fühlte ich das Bedürfnis und das Interesse, Menschen zu treffen, denen ich hin und wieder auf der Straße begegnete, wobei ich aber nie die Möglichkeit hatte, sie näher kennen zu lernen. Menschen, die anders waren als ich; deren Körper, Lebensweise, Denkart und Sein anders waren als meine. Mit ANDERS sind in diesem Fall Menschen mit besonderen Bedürfnissen gemeint. Und ich unterstreiche “mit besonderen Bedürfnissen” – denn ich habe eine faszinierende Welt entdeckt, in der mich jede Person überrascht hat – mit einer besonderen Fähigkeit, einer speziellen Eigenschaft, die ich nicht meinte anzutreffen. – Ich war eine Gefangene meines eigenen Irrtums. Und ich lernte, ihre Behinderung nicht als Grenze oder Barriere zu sehen, sondern als Identität einer Person, als Ausgangspunkt und Wirklichkeit.Giuliana - Ich lebe Io vivo - Paola MarcelloGiuliana

Denkst du, dass das Thema vielen Menschen fremd ist?

Mehr noch als dass das Thema fremd ist, denke ich, ist es noch zu sehr versteckt und weit weg von unserem Alltag. Es hätte viel mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit nötig. Wir müssten uns mehr mit der Welt dieser Menschen befassen, die uns mit ihren künstlerischen, sportlichen und kreativen Fähigkeiten, mit ihrer Lebenslust und Leichtigkeit, mit ihrer Spontanität und Offenheit überraschen können, weil sie sind, wie sie sind, und ihre Grenzen akzeptieren.  
Ich denke, dass es unsere Aufgabe als FotografInnen ist, aber auch Aufgabe aller BürgerInnen, die verschiedensten Wirklichkeiten und Gesichter unserer Gesellschaft und unserer Erde respektvoll aufzuzeigen und vorzustellen, sowie unsere Erfahrungen mit anderen zu teilen und Begegnung, Austausch und Reflexion anzuregen.  

Felix - Ich lebe Io vivo - Paola MarcelloFelix

Vielleicht eine dumme Frage, aber es werden sich wohl doch viele fragen: Wie war es mit den Portraitierten zu arbeiten?

Es war ein Prozess, eine Entwicklung, ein langsames respektvolles Sich-Nähern, fröhlich und intensiv – jede oder jeder hat mir auf seine Weise gestattet, am Alltag teilzuhaben, hat mit mir persönliche Momente des Lebens geteilt. Ich habe gelernt zu respektieren und jede und jeden zu schätzen, für das, was sie oder er ist – unabhängig von Vorurteilen und Klischees. –  Es war ein geduldiges Weitermachen und Arbeiten ohne große Erwartungen, ohne sich irgendetwas Spezielles zu erhoffen… Ich habe außergewöhnliche Menschen kennen gelernt, die mich zum Lachen gebracht, mich bewegt, ermüdet, verblüfft, bewundert und angehört haben. Sie haben mir erneut bestätigt, dass es Normalität, richtig und falsch, nicht gibt. Verschiedenheit ist Vielfalt, Reichtum und Kraft und die einzige Wahrheit in unserer Gesellschaft, und alle sollten wir daran teilhaben.

Mattia - Ich lebe Io vivo - Paola MarcelloMattia

Manuela - Io vivo Ich lebe - Paola MarcelloManuela

Wie kam es zum Titel der Ausstellung “Ich lebe”?

Das war, weil ich in jedem Zusammentreffen nicht ihre Behinderung wahrgenommen habe, sondern vielmehr ihre Lebensfreude, ihre Zufriedenheit für das, was sie sind, ihre Gegenwart im Augenblick, ihre Echtheit im eigenen Sein, ihre Spontanität und Neugierde für neue Dinge und Menschen, obwohl anders als sie.

Paola MarcelloPaola Marcello

Im Bild ganz oben: Verena.
Alle Fotos von Paola Marcello

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Comments

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There is one comment for this article.
  • Beate · 

    Tolle und gelungene Fotos! Ich wünschte so etwas würde es öfters geben. Sie vermitteln ein positives Lebensgefühl. Leider wird meisten ein viel zu negatives Bild von Menschen mit besonderen Bedürfnissen dargestellt.