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February 4, 2014
MINIMUM: 6 FotografInnen und ihre visionäre Deutung von Zeit und Raum
Kunigunde Weissenegger
Welche Assoziationen kommen euch in den Sinn, wenn ihr das Wort “Minimum” hört? Laut Duden ist es der untere Extremwert, ein Mindestmaß und der niedrigste Wert. Vor vier Jahren hat dieser Begriff ein Kollektiv von Menschen zusammen geführt: Sechs Fotografinnen und Fotografen aus Nord- und Südtirol zeigen uns in ihrem Projekt “MINIMUM“, was sie darunter verstehen und verarbeiten es in ihren Fotoarbeiten. Sechs Ansichten, sechs Visionen, sechs Assoziationen, sechs Bedeutungen im weiteren Sinn von Hanna Battisti, Andreas Bertagnoll, Maria Döttlinger, Heinz Jörgen Hafele, Werner Neururer und Andrea M. Trompedeller. Spannend auch die Frage, wo und ob überhaupt sich sich ein gemeinsamer Treffpunkt ihrer individuellen Visionen findet? Im Folgenden lassen die Sechs uns in ihr Projekt, ihre Arbeiten, Gedanken und ihr Kollektiv blicken.
Hanna Battisti (Foto oben): Unser Projekt MINIMUM stellt die Frage nach den Auswirkungen eines unbegrenzten Wachstums, der als Grundlage unserer sozial-liberalen Wirtschaftsform gilt. Dieses Modell hat unseren Wohlstand geschaffen, scheint aber jetzt an eine Grenze zu stoßen. Meine Fotoarbeit befasst sich mit dieser Grenze. Inspiriert durch meine Asienreisen, die Begegnung mit dem ZEN-Buddhismus und die japanischen Geisteshaltung des WABI SABI, ist es mein Versuch, einen Ausdruck von Schönheit zu finden, der “in jenem kurzen Übergang zwischen dem Kommen und dem Gehen des Lebens liegt”, wo Wehmut, Sehnsucht und Freude gleichermaßen zu finden sind. Es ist die Schönheit des Unvollkommenen, der kleinen und größeren Dinge, die einer ständigen Veränderung unterworfen sind. Es geht mir darum, diesen ungewöhnlichen und oft übersehenen Moment, das JETZT wahrzunehmen, und auf diesen scheinbar unbedeutenden Augenblick aufmerksam zu machen. Ich bin überzeugt, dass eine solche Haltung gegenüber den Ereignissen, Menschen und Dingen nicht nur zu größerer Ruhe und Zufriedenheit führen kann, sondern auch gesellschaftlich eine gute Alternative zu dem IMMER SCHNELLER – IMMER-MEHR bieten kann. Eine Verlangsamung würde mehr Lebensqualität bedeuten. Mit der Gruppe der FotografInnen des MINIMUM verbindet mich eine kontinuierliche Auseinandersetzung über diese Themen und über die visuelle Umsetzung der Einzelnen. Unsere Arbeiten werfen jeweils ein Spot-Licht auf unterschiedliche Aspekte des unbegrenzten Wachstums: Einige von uns bewegen sich auf der Ebene der kritischen Stellungnahme, andere zeigen persönliche Befindlichkeiten auf.
Andreas Bertagnoll: Ursprünglich wurde das Projekt von Hanna ins Leben gerufen, um Gegenwelten zur immer mehr auf Optimierung ausgerichteten Gesellschaft zu zeigen. Ich wollte jedoch eine Gegenwelt zur Gegenwelt zeigen. Die Welt also – auch wenn meinen Bildern ein kritischer Unterton anhaftet. Es ging mir darum, über die Marken, die drei verschiedene Menschen in meinem Alter konsumieren, Rückschlüsse auf den Lebensstil eines Menschen zu ziehen. Ob die Rückschlüsse dann zu einer wahren Identität führen oder zu einer gefakten, ist eine andere Frage.
Maria Döttlinger: Gemeinsam sind unsere Bilder aus dem Ansatz unseres Projektes “nicht alles gelingt nicht immer geht’s nach oben” entstanden. Ich stellte mir die Frage, wie sich Menschen fühlen, die der Schnelllebigkeit dieser Zeit nicht entsprechen und am Rande der Gesellschaft stehen. Aber auch diese Angst davor, mit dieser Schnelllebigkeit nicht mitzuhalten und dadurch womöglich auf der Strecke allein hängen gelassen…………..zu werden – am Rande der Gesellschaft. – Was macht diese Angst?? – Dieser Zwiespalt vom Schrei nach Entschleunigung – Individualisierung. Und der Schrei der Angst, dadurch an den Rand der Gesellschaft zu geraten. Es sind Gefühlsbilder, die für jeden individuell sein sollten. Idealerweise sollten diese Bilder etwas spürbar machen oder zum Nachdenken anregen.
Heinz Jörgen Hafele: Meine in Diptychen angeordnete Fotoserie beschäftigt sich mit den Begriffen “Individualität” und “Identifikation”. Wie viel Spielraum bleibt einem Individuum innerhalb vorgegebener Grenzen? Die Vorgaben richten sich sowohl nach genetischen als auch nach umweltbedingten, kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Trotz dieser Einschränkungen gibt es in viele Richtungen offene Entfaltungsmöglichkeiten, von denen nicht alle wünschenswert und erstrebenswert sind. Die Entwicklung aller Lebewesen wird also sowohl vom Erbgut (genetic code) als auch von außen einwirkenden Faktoren (code of ethics, code of behaviour etc.) beeinflusst. Die Porträts der Kinder und der Pflanzen sollen auf diese Thematik hinweisen. Ein weiteres verbindendes Element sind die Schriftzeichen unter den Porträts. Sie wurden dem chiffrierten Text entnommen, der sich nach der Umwandlung der digitalen Bildinformation eines jeden Bildes in eine codierte Schrift- bzw. Zeichenfolge ergab. Vielleicht auch ein Hinweis auf die Komplexität der heutigen Welt, in der wir viele der aufgenommenen Informationen nur schwer verarbeiten und oft nicht verstehen können.
Werner Neururer: Porträts von Autofahrern stehen im Zentrum meiner dreiteiligen Fotoarbeiten, zufällig ausgewählt an einer Autobahnraststätte auf der Inntal-Autobahn. Immer mit im Bild ein Fragment des jeweiligen Fahrzeuges, dazu ein paar nüchterne Fakten zum Auto. Der gemeinsame Titel “Minimum” ließe sich in meinen Arbeiten am ureigensten Zweck eines Autos – nämlich von Ort A zu Ort B zu kommen – festmachen. …dies muss heute allerdings immer schneller, uneingeschränkter und bequemer zu bewältigen sein. Spannend während meiner Arbeit an diesem Projekt war die Auseinandersetzung mit den Autofahrern, ihnen mein Konzept darzulegen und sie in kurzer Zeit dafür zu gewinnen. In diesen sehr knappen Gesprächen kam oft die mehr oder wenig intensive Beziehung zum Technikgegenstand Auto zum Vorschein. Steigende Treibstoffpreise und Steuern, höhere Maut- und Parkgebühren, umweltfreundliche Antriebsformen – Veränderungen, die auf uns zukommen. Doch gibt es überhaupt Alternativen zum immer größeren, besseren, schnelleren Auto?
Andrea M. Trompedeller: Mein Beitrag “Flora” handelt von einer demenzkranken, fast neunzigjährigen Frau. Also geht es in dem Sinn um den Aspekt Minimum, dass in einer Welt, in der das Maximum gefragt ist, nicht alle mithalten können, gerade wenn sie alt und zerbrechlich werden. Für diese Frau hat sich ihre Welt immer mehr auf ein Minimum beschränkt, kreist ihr Alltag immer mehr um den kleiner werdenden Raum in ihrer Küche, um ihren Stuhl, wo sie sich aufhält, wenn sie nicht im Bett liegt und von ihrem Sohn versorgt wir. – Wo sie noch ein paar Freuden, wie einen Likör, ein Glas Wein oder Süßigkeiten genießt, ihren Gedanken nachhängt und sich an früher erinnert, während die Gegenwart immer mehr entschwindet. “Renato, wo bin i denn?” “A casa, mamma, a casa.” – Dies waren Sätze, die ich zwischen Mutter und Sohn aufgeschnappt habe. Trotz dieser Zerbrechlichkeit hat mich eine gewisse Würde an dieser Frau fasziniert und das habe ich durch die vier Bilder von verwelkenden Blumen zum Ausdruck bringen wollen, die trotz ihres ersichtlichen Absterbens noch ihre Schönheit zeigen. Ich bin durch die Begegnung mit Flora zu folgender Überzeugung gelangt: Auch wenn von Außen betrachtet das Altwerden, eine Krankheit wie Demenz, als Reduzierung erscheint – und es ist ja wirklich ein Sich-Zurückziehen in sich selbst – habe ich dennoch eine große Energie gespürt, aber eben nicht eine, die sich nach Außen richtet, sondern nach Innen.
Am 7. Februar 2014 war MINIMUM bis 28.2.2014 in der Stadtgalerie Brixen in den Großen Lauben zu sehen.
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