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September 11, 2013

Franz-Tumler-Literaturpreis: „Was wir erben“ von Björn Bicker

Christine Kofler
Zum vierten Mal wird am 19. September 2013 in Laas der Franz-Tumler-Literaturpreis vergeben. Nominiert sind fünf deutschsprachige Erstlingsromane von Newcomer-Autorinnen und -Autoren. Einer davon ist Björn Bicker mit seinem Debüt „Was wir erben“.

Dem Autor und Dramaturgen Björn Bicker ist mit seinem Text eine atmosphärische Verdichtung von Vergangenheit und Gegenwart einer Biografie  – aber auch eines Landes – gelungen. Im Interview erklärt der Autor, warum wir unserer Vergangenheit nicht entfliehen können, wie Sucht das System Familie ins Wanken bringt und warum gerade der Franz-Tumler-Literaturpreis von einer Debatte über Vergangenheit und Schuld, Politik und Kunst begleitet werden sollte. 

„Alles hängt mit allem zusammen. Das Heute kann man nicht vom Gestern trennen.“ Dieser Satz aus Ihrem jüngsten Buch „Was wir erben“ zieht sich leitmotivisch durch den Text. Warum können wir uns nicht einfach abkoppeln, die Vergangenheit hinter uns lassen?

Weil wir aus unserer Vergangenheit bestehen. Die Erlebnisse, die Taten, die Gefühle unserer Vorfahren sitzen in uns, arbeiten in uns. Biologisch, sozial, psychisch, gesellschaftlich, in ganz komplexen und verwirrenden Verstrickungen. Das sind die erbarmungslosen Gesetze der Vererbung. Wenn wir das akzeptieren, können wir positiv damit umgehen. Wir sind dann in der Lage, uns so zu nehmen, wie wir sind und können versuchen, herauszufinden, warum wir sind wie wir sind. Das kann sehr befreiend wirken. Wir müssen dann nicht länger gegen uns selbst arbeiten. Wenn man in einem Land wie Deutschland groß wird, dann lernt man, was es heißt, mit der Vergangenheit verbunden zu sein. Die Traumatisierungen von Krieg, Rassismus und Menschenfeindlichkeit tauchen in jeder Generation wieder auf, oft in ganz neuem Gewand. 

Die Protagonistin im Roman wird von ihrer Vergangenheit, einer Kindheit geprägt von dem alkoholsüchtigen Vater, wieder eingeholt, als ein angeblicher Halbbruder sich meldet. Elisabeth, die Enddreißigerin ist eine erfolgreiche Schauspielerin. Sind die Rollen, in die Elisabeth schlüpft, ein Weg, der Vergangenheit zu entfliehen?

Das Theater ist für die Erzählerin ein Weg, die gelernte Als-ob-Struktur ihrer Familie in ihr Erwachsenenleben zu übertragen. Man hat keine Gefühle, man spielt Gefühle. Damit kennt sie sich aus. Das hat mit der Suchterkrankung ihres Vaters zu tun. Diese Krankheit befällt alle Mitglieder der Familie, wie ein Geschwür, das von Person zu Person wuchert. Auch diese Krankheit wird übrigens vererbt, wenn auch über viele Wege, biologisch wie sozial. Und dann fängt sie an, über ihre Familie nachzudenken und die sicher geglaubte Struktur wird porös und brüchig. Aber was soll diese Struktur ersetzen?

Die Gefühlswelt der Protagonistin, das alltägliche Leid im Schlagschatten des alkoholkranken Vaters wird sehr präzise und atmosphärisch dargestellt und kulminiert schlussendlich auch in physischem Leid, wenn Elisabeth als Kind in die Glassplitter der kaputten Underberg-Flaschen tritt. Warum haben Sie Alkoholismus aufgegriffen?

Weil das eines meiner Lebensthemen ist: Alkoholismus, Sucht. Ich bin selber in einer Familie aufgewachsen, die seit Generationen von dieser Krankheit geprägt ist. Da spürt man die ganze Wucht der Vererbung. Zudem ist Alkoholismus ein Phänomen, das fast jeder kennt. In so gut wie jeder Familie spielt Sucht auf die eine oder andere Art eine Rolle. Warum ist das so? Was sagt das über unsere Kultur aus? Das Thema Alkoholismus ist gleichzeitig wie ein Brennglas: Menschliches Verhalten wird existentiell, weil es immer um Leben und Tod geht. Das ist ja das eigentlich Fulminante an jeder Sucht: Es geht um Selbstauslöschung und zwar auf eine extrem theatrale Art. Jeder soll es sehen. Aber keiner soll helfen können. Das ist das Teuflische am Alkoholismus. Das läuft allen Vorstellungen von Liebe, Gemeinschaft und Fürsorge, die wir so haben, zuwider. Und dann ist es auch noch eine Erkrankung, die immer ganze Systeme (Familie, Arbeit, Freunde) betrifft. Darüber zu schreiben, hat mich gereizt. Das Komplizierte daran. 

Sie arbeiten als Dramaturg und Regisseur, schreiben selbst Theaterstücke. Das Theater wird von der Ich-Erzählerin in „Was wir erben“ als „routiniertes Selbstberuhigungsritual“ für eine bürgerliche Gesellschaft  bezeichnet, in dem sich Leute in ihrer angeblich so kritischen Weltsicht selbst bestätigen lassen. Hat das Theater noch die Kraft, die Welt zu verändern? Wie kann Theater auch andere Menschen, jenseits des Bildungsbürgertums erreichen?

Hat das Theater jemals die Kraft gehabt, die Welt zu verändern? Ich glaube nicht. Darum geht es auch gar nicht. Es geht eher um die Frage nach der Relevanz. Für wen soll das gut sein, was man tut. Das aktuelle Theater muss sich entscheiden: Will es weiterhin eine bestimmte soziale Schicht bedienen und somit mehr und mehr zur bildungsbürgerlichen Parallelgesellschaft oder will das Theater mehr zu einem Ort der Begegnung werden. Wenn man sich für das letztere entscheidet, dann geht es darum, diese Begegnungen verschiedener Milieus zu inszenieren, zu ermöglichen. Das ist Kunst, die mich interessiert.

Heuer wird der Franz-Tumler Preis zum vierten Mal vergeben. Haben Sie schon etwas von Franz Tumler gelesen? 

Bis zur Nominierung habe ich mich mit Werk und Leben von Franz Tumler nicht befasst. Jetzt musste ich es tun. Leben und Werk scheinen mir in seinem Fall extrem angreifbar zu sein und weisen genau auf die Themen, die wir gerade besprochen haben: Was ist die Vergangenheit und wie gehen wir damit um? Welche Haltung nehme ich dazu ein? 

Wenn ich recht informiert bin, dann hat sich dieser Autor nie öffentlich und explizit von seiner Täterschaft während des Nationalsozialismus distanziert. Er hat das NS-Regime unterstützt und gut geheißen. Nach dem Krieg hat er nicht mehr darüber gesprochen. Wenn, dann wohl nur literarisch verarbeitet. Wie mir erzählt wurde, ist er Nachfragen ausgewichen.

Dahinter könnte man eine weit bekannte Strategie erkennen: das Unangenehme wird ästhetisiert bzw. ins Poetische verlagert. Das ist aber keine Abkehr vom Politischen, oder Ideologischen, sondern das ist gerade das Politische. Indem man etwas nicht sagt, indem man schweigt, sagt man ziemlich viel. Der Nationalsozialismus war kein Bubenstück. Dazu muss man sich verhalten. Gerade wenn man so aktiv mit gemacht hat. Tumler hat die Texte geschrieben, die er geschrieben hat. Sonst nichts. Keine Entschuldigung, kein Erklärungsversuch. Das ist eigentlich extrem ärgerlich. Es ist aus vielerlei Gründen irritierend für mich, einen Preis für debütierende Romanautoren unter das Patronat eines solchen Namens zu stellen und den Preis als „Würdigung von Leben und Werk“ dieses Autors zu begreifen. Ich bin als Nominierter also gezwungen, mich dazu zu verhalten. Ob ich will oder nicht. Ich kann mich von dieser Geschichte nicht trennen. Das ist und bleibt ein ungutes Gefühl. Und wenn ich Texte von Tumler lese, wie gerade „Aufschreibung aus Trient“ und „Volterra“, dann kann ich die Lektüre nicht von meinem historischen Wissen trennen. 

Und wenn ich dann lese, wie sich ein Autor auf die vermeintliche Unüberprüfbarkeit von Wirklichkeit zurückzieht, die Realität, die Erinnerungen, die er beschreibt ästhetisiert, indem er sie sprachlich als undurchschaubar, uneindeutig gestaltet, dann ist das womöglich eine Flucht ins „innere Reich“ des Ästhetischen.  

Wirklichkeit mag in der Literatur als Konstruktion erscheinen, da würde ich sofort zustimmen, in der Realität sind Millionen getöteter Menschen aber keine Konstruktion. Vor dem Hintergrund der tatsächlichen Geschichte fröstelt es mich bei der Lektüre – um das mal zaghaft auszudrücken. Diese Ambivalenz hat ja auch schon eine der Jurorinnen des Preises, Sabine Gruber, in ihrem Artikel für das ff Wochenmagazin „Diskretion und Verschwiegenheit“ (siehe auch franzmagazine.com/2012/01/16/diskretion-und-verschwiegenheit-sabine-gruber-zum-100-von-franz-tumler) zum hundertsten Geburtstag von F. T. zum Ausdruck gebracht und sich trotzdem zu einer Würdigung durchgerungen. 

Wie verhält man sich zu so einem Werk, zu so einem Leben? „Würdigung“, wie es auch auf der Homepage des Preises zu lesen ist, würde mir als Überschrift dazu erstmal nicht einfallen. Ich fühle mich geehrt von Hauke Hückstädt, dem Leiter des Frankfurter Literaturhauses, für diesen Preis nominiert worden zu sein. Ich finde es wunderbar, dass das Land Südtirol Autoren unterstützen und fördern möchte. Allerdings stehen Leben und Werk Franz Tumlers so konträr zu meinen Vorstellungen davon, was es heißen könnte, verantwortungsvoll, ehrlich und offen mit sich, seiner Vergangenheit, mit Politik und Kunst, umzugehen, dass es mir schwer fällt, kommentarlos an diesem Wettbewerb teilzunehmen. 

Der Nationalsozialismus und das mit ihm verbundene Unheil entfacht seine Wirkung bis heute. Es geht um Rassismus, Mord und Unmenschlichkeit. Es würde mich beruhigen, wenn man im Rahmen der Preisvergabe über Themen wie Schuld und Verantwortung, Kunst und Politik, debattieren könnte. Wenn ein Autor wie Tumler zu etwas provoziert, dann doch zu solchen Debatten. 

Mehr zum Autor Björn Bicker: www.bjoernbicker.de/5-0-Biografie.html
Sabine Gruber zur NS-Vergangenheit von Franz Tumler: franzmagazine.com/2012/01/16/diskretion-und-verschwiegenheit-sabine-gruber-zum-100-von-franz-tumler

Foto: Fuessenich

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