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April 8, 2013

Die Bozner Autorentage 2013 – ein vorausblickender Rückblick

Marco Russo

Grenzen markieren eine Trennung und verursachen Spaltung. Dieser Sachverhalt kann auch zum formalen Grundsatz künstlerischen und kulturellen Arbeitens erhoben werden. In einem solchen Fall wird man sich darum bemühen, Gegebenheiten zu konservieren und möglichst unverfälscht zu tradieren. Auf praktischer Ebene impliziert eine derartige Sichtweise beispielsweise, dass die räumliche Trennung zwischen Schauspieler und Publikum bewahrt bleiben muss, Theaterstücke nur in dafür vorgesehenen Einrichtungen aufgeführt werden dürfen, dass das aufgeführte Stück vom alltäglichen Leben abgehoben sein muss und die Aufführung einen klaren Anfang und ein klares Ende haben muss. Kurzum: Alle Kunst muss der Logik eines ordnenden Systems angepasst sein.

Es ist aber kurzsichtig das Element der Grenze nur auf dieser Ebene zu betrachten, denn einer jeden Grenze wohnt zugleich eine positive Kraft inne: Eine jede Grenze eröffnet den Raum für neue Wege, den Raum für Dissidenz, Revolte, Revolution und schließlich Transformation. Kurzum: Gäbe es keine Grenzen, so wäre Kunst lediglich ein starres Konstrukt und nicht Fluktuation.

Was haben diese Zeilen mit den Bozner Autorentage 2013 zu tun? Nun: sie entstehen aus der direkten Involvierung meinerseits mit diesem Ereignis, vor allem aber aus der exzellenten Eröffnungsrede von Björn Bicker, der mir (und nicht nur mir), wenn ich so sagen darf, in einigen Punkten aus der Seele sprach. Der für mich markanteste Teil der Eröffnungsrede:

„In Zukunft wird es wohl mehr darum gehen, sich ins Politische und Reale zu wagen. Die große Frage für mich: Welchen Part spielen wir Autoren bei dieser ganzen Sache? Braucht es uns überhaupt noch? Und wenn ja: wozu? Das Theater als Institution, als Kunstform und konkreter Raum hat die Möglichkeit genau das zu inszenieren, woran es der Gesellschaft fehlt: Begegnung, Migranten und Nicht-Migranten, Arme und Reiche, Männer und Frauen, digital Natives und Senioren. Die Liste kann beliebig erweitert werden. So kann die Kunst konkreter künstlerischer Arbeit in einen Prozess sozialer und politischer Praxis verwandelt werden. Es geht um nichts Geringeres als um das Miteinander in unserer europäischen Gesellschaft. Kunst hört in diesem Sinne auf, sich nur als Objekt oder Text oder Stück zu zeigen, also als Theateraufführung, als Bild, als Skulptur. Das geschaffene Objekt ist nur noch ein Teil des Kunstwerks, der andere, der unsichtbare, aber ebenso wichtige Teil ist das, was im Vollzug geschieht. Die Aufführungen, die dabei entstehen, spielen sich auf unterschiedlichen Bühnen ab, auf Sichtbaren und Unsichtbaren, in den Lebensläufen der Beteiligten, im öffentlichen Diskurs, auf politischen Entscheidungswegen, auf Theaterbühnen, in Kirchen. […]. Regisseure werden zu Moderatoren, zu Ermöglichern, ebenso Schauspieler, deren eingeübte Virtuosität des Darstellens ist plötzlich gar nicht mehr gefragt, sondern wird abgelöst von der Fähigkeit zur Kontaktaufnahme, zur Performance jenseits des geschützten Ich-tue-so-als-Ob. Das Theater kann es in diesem Sinne schaffen als utopischer, als dritter Ort zu funktionieren, Begegnungen zu stiften, die an keinem weiteren Ort auf diese Weise statt finden würden. Es kann als Bühne für soziales und politisches Handeln fungieren und kann umgekehrt den sozialen und politischen Raum zur Bühne erklären. In beiden Fällen entstehen Handlungsräume, die neue Freiheiten ermöglichen. Menschen begegnen sich, lernen sich kennen und verändern auf diesem Weg Gesellschaft. Die Kunst, die ich meine, wird also selbst zur sozialen und politischen Praxis, die ein enormes Maß an Selbstreflexion möglich macht. Es scheint mir der richtige Impuls der Bochumer Demonstranten gewesen zu sein, das örtliche Theater als Ort der Versammlung, des Protests und vor allem als Raum für Begegnungen beschlagnahmen zu wollen. Begegnung braucht Räume und Anlässe, gemeinsam aktiv zu werden, vielleicht ist das die Kunst der Zukunft: Das Bereitstellen und Inszenieren offener demokratischer Räume, in denen das geschehen kann, was der Gesellschaft fehlt.“

Björn Bickers Rede darf nicht nur eine Eintagsfliege der Bozner Autorentage bleiben. Im Gegenteil: sie soll zum Impuls werden, vor allem dahingehend, was die Frage von Kunst und Kultur in Südtirol und Tirol betrifft. Mehrmals durfte ich interessante Erfahrungen sammeln, wie Kunst sich ins Politische und Reale wagt, wie Kunst direkt im öffentlichen Raum agiert und mit der Öffentlichkeit interagiert, zu sehen, wie Künstlerinnen und Künstler den kritischen Schritt und kritischen Impuls wagen, um eben das zu ermöglichen, was Bicker „Begegnung“ nennt (columbosnext.com). Und hier eröffnet sich zugleich eine Diskrepanz: Während Künstlerinnen und Künstler den Schritt ins Politische wagen, also in einer Form des öffentlichen politischen Engagements abseits von Parteien und Regierungen, scheint die etablierte Politik nicht fähig zu sein, diesen Schritt in Richtung politisch-motivierte Kunst zu begehen. Denn wie oft geschieht es, dass Projekte aufgrund ihres „zu politischen“ Charakters zurückgewiesen werden (siehe hier…)?

Oder anders formuliert: Wieso trauen sich Südtiroler KünstlerInnen und Kulturschaffende immer wieder gegebene Grenzen, in diesem Fall ethnisch formierte Grenzen, zu durchbrechen? Wieso arbeitet die Basis längst schon zusammen, während die öffentliche Hand sich nach wie vor weigert, gemeinsam entstandene Kunst- und Kulturprojekte, wie zum Beispiel franzmagazine, zu fördern? Diesen Fragen muss sich die kommende Landesregierung stellen, ansonsten sehe ich wirklich Schwarz für die Zukunft der Südtiroler Kunst- und Kulturszene…

Björn Bicker (Foto: Sabine Weissenegger)

Foto oben: Wir gratulieren Simon Cazzanelli! (im Bild mit Blumenstrauß und Armin Gatterer, Abteilung für Deutsche Kultur und Familie; Irene Girkinger, Vereinigte Bühnen Bozen; Eva Gratl, Stiftung Südtiroler Sparkasse; Sylvia Hofer, Gemeinde Bozen) Foto: Sabine Weissenegger

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