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March 26, 2013

Carlo Speranza: “Fiktion um Fiktion, Lüge um Lüge – die neue Talionsformel”

Kunigunde Weissenegger

Sei ehrlich! Bist du ehrlich? Wärst du es? Wirklich? Wenn du einen goldenen Ring auf der Straße finden würdest? Oder eine Geldtasche? Oder einen Geldschein? Einen 500-Euro-Geldschein? Was würdest du damit machen? Zurück geben? Wem? Einstecken? Ein Pferd kaufen? Spenden? Was also? – Und umgekehrt: Wie würdest du reagieren, wenn du so etwas in einer Anzeige oder auf einer Anschlagtafel in einem Supermarkt lesen würdest: “500 €uro Schein im Brunecker Zentrum gefunden. Angaben über Zeitraum und Verlustort an mayr.josef4 at gmail.com für die Rückgabe des Geldscheins.”? Diesem Versuch hat sich der Künstler Carlo Speranza aus Bruneck hingegeben: Er hat auf verschiedenen online Kleinanzeigen-Portalen diese Anzeige aufgegeben, sie auf Pinnwänden in Supermärkten ausgehängt und die “schönsten” Antworten der vermeintlichen “Geldschein-Verlierer” gesammelt. Was erfinden sich Leute, um an Geld zu kommen, das ihnen nie gehört hat? Wir wiederum haben Carlo Speranza gefragt, wie er darauf kommt, so ein Projekt zu starten.

Carlo, wie bist du auf die Idee gekommen, einen 500-Euro-Geldschein zum Zurückgeben anzubieten?

Als Kinder haben alle mal diesen Scherz gemacht, bei dem man eine leere Brieftasche genommen und auf die Straße gelegt hat, sich dann versteckt und gewartet hat. Wenn sich dann jemand bückte,  um die Brieftasche aufzuheben, hat man an dem an der Brieftasche befestigten Fischerseil gezogen… Candid-Camera-Standard-Scherz im Prinzip.

Ich habe dieses kindliche Spiel adaptiert und dem Heute angepasst. Geld ist unsichtbar geworden, um es zu bekommen, muss man sich nicht mehr bücken, sondern einen unpersönlichen Akt tätigen, wie beispielsweise zu einem Bancomaten gehen oder in diesem Fall eine E-Mail schreiben. Im Laufe der Arbeit habe ich ganz schnell realisiert, dass es sich bei dieser Arbeit, über ein zugegeben etwas unorthodoxes  Experiment  von Verhaltensmustern hinaus, um eine soziologische Studie der Jetztzeit handelt. Es geht um Betrug und Lügen einer in der Krise steckenden Gesellschaft und um die Art, wie dies im virtuellen Zeitalter funktioniert. Leute erzählen einem Unbekannten auf unpersönliche Weise, anhand einer Mail, ohne dem Betreffenden direkt in die Augen sehen zu müssen, eine wahre oder unwahre Geschichte, um damit 500 Euro zu bekommen.

Carlo Speranza franzmagazine

Wie haben sich die Leute gerechtfertigt, um an den Geldschein zu kommen?

Südtirol, Italien von Süden bis Norden, Innsbrucker Land, München, Wien… Überall habe ich im lokalen online Kleinanzeiger das Inserat gepostet. In Südtirol wurde es auch im Rundfunk ausgestrahlt, in Tageszeitungen veröffentlicht und mit Flyern beworben. Die Antworten waren sehr unterschiedlich und in der Auswertung habe ich festgestellt, dass es geographische Unterschiede in den Reaktionen gibt. Die Italiener haben am wenigsten geantwortet, am meisten haben Südtiroler reagiert und geschrieben, am ehrlichsten waren die Österreicher, die haben alle geschrieben, sie hätten den Schein zwar nicht verloren, aber wenn ich nicht wüsste, wem ich ihn geben soll, dann würden sie sich freuen, wenn ich mich für sie entscheiden würde.

Tragische Antworten sind auch gekommen: Eine junge Frau aus Südtirol hat eine Geschichte – ob wahr oder gelogen, bleibt dahingestellt – erzählt, über Scheidung, schlechte Arbeitsbedingungen, Pech und Notstand. Es sind aber auch lustige Antworten gekommen: Ein Italiener aus Perugia hat erklärt, er könne nicht genau sagen, wo er den Schein verloren hätte, denn an diesem Tag sei es sehr windig gewesen, daher könnte der Schein überall hingeflogen sein… Ein Rechtsanwalt hat mir anhand des Zivilgesetzbuches erklären wollen, dass er Anspruch auf den Geldschein hätte, denn er habe Zeugen…

Was schließt du aus diesen Antworten? 

Ich bin kein Psychologe oder Soziologe, deswegen möchte ich nichts Genaues interpretieren. Ich war neugierig auf die Antworten und auf die Kreativität der Anonymität, angekurbelt von der Möglichkeit mit einer E-Mail schnell 500 Euro zu verdienen. Ich denke auch, dass vielleicht einer von denen, die geantwortet haben, wirklich einen 500-Euro-Schein verloren hat. Das könnte ja möglich sein, aber ich kann es nicht wissen, daher bleibt alles so, wie es ist. Den Schein habe ich nie gefunden, kann ihn folglich auch nicht zurück geben. Fiktion über Fiktion…und das ist am Ende der Spiegel der Zeit.
Nicht mehr “Aug um Auge, Zahn um Zahn…” sondern “Fiktion um Fiktion, Lüge um Lüge” lautet die Talionsformel im virtuellen Kampfgeist.

Aha, danke, Carlo!

Wenn ihr Lust habt, könnt ihr es ja noch versuchen – vielleicht habt ihr Erfolg… mayr.josef4 at gmail.com

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