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November 9, 2012

Spleen aus Wien: Grenzgänge eines entwurzelten Südtirolers #1

Rufus T Firefly

Wien, Wien, Wien. Beachtet, besungen, beschrieben. – Ab heute auch auf Franz von einem neuen Blogger: Rufus T Firefly taucht mit uns in die Prater-Stadt und erzählt uns Wunderliches, Absonderliches, Reizendes, Frisches… 

Wien ist keine Lichterstadt. Das Dunkle und Unheimliche sind hier seit jeher prägend. Der Österreicher gibt sich konventionell nach außen. Unter der Oberfläche modert es. Fritzl, Kampusch, Hitler. Immer noch fahren Fiaker durch die Stadt. Die Innenstadt ist neutralisiert durch Tourismus, Finanz und Luxus. Aber in den Außenbezirken glitzert es noch dunkel. In den Bars, Bordellen und Beisln. Der Tonfall der verlorenen Seelen ist schnarrend, laut und bieder. Die Mittagessen fettig und fleischig. Die Häute grau und behaart. Der Duktus fließt im Alkoholrausch dahin. Die Formen sind klar, klar auch vor allem in ihrem Weg des vorgezeichneten Verfalls. Übertragung von Schlaf und Verfall von Generation zu Generation. Wer dem entkommen will, für den gibt es nicht viel zu holen. Bürojobs, Heuchelei, Langeweile gegen ein Festgehalt. Wohlfeiles, unerträgliches Geplapper. Dann auch die Lokalpolitik. Zwischen Diskursverknappung und durchkalkulierten Angriffen auf den Diskurs an den immergleichen Knöpfen und Schaltstellen. Von blauen Tatzen. Schimmel, Pelz und Narben sind die naturellen und körperlichen Insignien dieses Zustands. Dass er nur gespannt bleibe und nicht versinke in alltägliche Problembewältigungen, endloser Spiegelfechterei und Neurose. Wachs- und Drahtköpfe manövrieren in ehrlicher Schmerzlosigkeit und in Selbstversunkenheit in den Schleifen des Codes ihr selbstgerechtes Tun. Wallungen kommen auf, drehen sich mehrmals im Kreis und versinken. Blaue Blume, Mohn und Techno bieten mehr. Führen aber in den Verschleiß. Die Lust an Körpern verwirkt sich schnell in ihrer vielfachen Verwirklichung. Der Akt löst sich vom Gefühl und wird lächerlich. Die Lust verliert und verkriecht sich in perverser Fantasie, die in der banalen Realität sich nimmermehr gespiegelt findet.

Wien: Stadt der dunklen Gefühle, der Introspektionen, der virtuosen Selbstumdrehungen. Stadt der Artisten, der Artisten-Metaphysik. Vor den großen Vertreibungen durch die Provinz-Brutalos. Böse Nachtportiere und dritte Männer spuken durchs Revier. Das Grauen lauert hinter jeglicher Fassade. Und dann die Arroganz des Wiener Snobs. Kennt man seine Grammatik nicht, umflattern und verwirren einen seine Worte und man fällt in Schwindel und Stammeln oder Schweigen. Man schrumpft oder bläht sich auf. Oder man verbleibt in Gleichgültigkeit. Gefühl eines ernsthaften Detachements, das man sich dann in Nächten mit Gleichgesinnnten, mit Expats und Partyheimern um die Ohren und aus der Seele schlägt. Man will dann nimmermehr heim. Nur wenn man schon ganz verbraucht ist, huscht man als Schatten durch die beamteten Körper hindurch, dephysiologisiert, als schwacher, glorreicher Schein. Selbstverzehrender Lumen des Underground. Man will Türen für Liebe und Ehrlichkeit eintreten, aber immer enthuschen einem die begehrten Objekte, weil man selbst verdorben ist von Wien und seiner Feigheit und Schlechtigkeit. Weil der eigene Schmerz schon zuviel um sich gestellt hat, um sich zu immunisieren. Stumm dämmert uns die vollkommene, unauflösliche Verfangenheit ins Dezentrierte. Abfall und Exzess. Unrast gegen Unrast. Noch mehr Beschleunigung gegen Beschleunigung. Flucht und Vergessen.

Aber in Wien funktioniert auch die Betäubung gut, die Fresssucht eine Hermes vormaligen Phettberg, die Opium- und Haschischräusche des fin de siecle, der Dorfmeister-Dub, Melange und Zuckerbäcker, alles Opulente und Dekorative, die Melancholie, Katholizismus, Aberglaube und Nähe des Ostens, der generelle Flirt mit allem Halbgaren, Korruption und Part-of-the-game Denken, Affinität zu Kleinkunst und Feuilleton. Die Days verrinnen zum Dazing in der aktuellen Gefühlslage der jungen Wiener Neo-Décadents, die zum Sound von Detroit und Chicago durch die Tage schwimmen…

Ich, das heißt die sprachliche Form, Zerrform und Schmückung eines nach Wien verpflanzten Südtirolers, will künftig für Franzmagazine aus erwähnter Stadt berichten. Der Zugang soll wesentlich ein psychologischer sein: Als Sonde möchte ich in verschiedene Milieus einer Stadt eintauchen, in der sich die Schatten der Provinz mit der Urbanität des 21. Jahrhunderts treffen, um dabei gegenwärtige wie nachhallende Stimmungen und Haltungen zu registrieren.

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