Die Wand

Die Geschichte ist faszinierend. Eine Frau unternimmt einen Ausflug in eine Jagdhütte, und als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist die Gegend von einer unsichtbaren Wand umgeben. Es gibt kein Entrinnen. Die Frau muss sich mit der Situation arrangieren, wenn sie leben will. Ihr bleiben die Vorräte in der Jagdhütte, die Natur, ein Hund, eine Katze, eine Kuh, ihre Hände zum Arbeiten und ihr Kopf zum Denken. Irgendwann nach fast zwei Jahren beginnt sie, ihre Erfahrungen aufzuschreiben, um nicht verrückt zu werden. Diese Aufzeichnungen der Ich-Erzählerin sind der Roman „Die Wand“. Wie und ob der Aufenthalt endet, ist unbekannt. Der Roman lässt vielerlei Lesarten zu, von der zivilisationskritischen über die psychologische bis zu feministischen, und alle haben ihre Berechtigung. Martina Gedeck hat in der Verfilmung die schwierige Aufgabe, ohne Worte darzustellen, was in ihr und um sie herum vorgeht. Sie macht das vorzüglich. Der gelesene Lauftext des Romans begleitet das Geschehen auf der Tonspur. Die Natur liefert die restlichen Töne: Regen plätschert, Krähen krächzen, Wind haucht. Dazu kommt Musik, von klassisch über beschwingt bis sphärisch. 105 Minuten ordentlich gemachter Film, der die beunruhigende Dichte der literarischen Vorlage aber nicht erreichen kann. „Der Film ist eine autonome Kunst, die nicht auf Transpositionen auf einer Ebene angewiesen ist, die bestenfalls immer nur illustrativ sein kann. Jedes Kunstwerk lebt in der Dimension, für die es konzipiert worden ist“, sagt Fellini. Das gilt auch für „Die Wand“, die als Roman unbedingt gelesen werden sollte, als Film nicht unbedingt hätte sein müssen. Die Schriftstellerin Marlen Haushofer lässt sich übrigens am besten über ihre Werke kennenlernen und über die aufschlussreiche Biographie, die Daniela Strigl aus Haushofers Texten geschält hat.

Die Wand, (D, A 2012), 108 Min.; Regie: Julian Pölsler; Drehbuch: Marlen Haushofer, Julian Pölsler; Mit: Martina Gedeck. Bewertung: Sehenswert und lesenswert als Buch.

Erschienen in der Südtiroler Tageszeitung am 6./7.10.2012

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