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June 25, 2012

Tagung Raum-Region-Kultur, Interview mit Sigurd Paul Scheichl

Christine Kofler

Der Rittersaal von Schloss Goldrain: Wo könnte man besser über Raum, Region und Kultur sprechen als dort, wo sie unmittelbar präsent ist – hinter diesen Schlossmauern aus dem 12. Jahrhundert, in diesen schönen Gemäuern, die Stein gewordene Geschichte sind. Vom kleinen Vinschger Dorf dauert es ein und halb Stunden nach Landeck, genauso lang nach St. Moritz und etwa eine Stunde nach Bozen: Goldrain liegt im sogenannten Dreiländerdreieck Schweiz, Italien und Österreich. Dort fand vom 21. bis 23. Juni die Tagung über regionale Kultur- und Literaturgeschichte im Kontext aktueller germanistischer Diskurse statt.

Freilich wird heute in den Kulturwissenschaften Raum nicht mehr als statische Begrenzung, nicht als definitiver Ort, sondern als durch kulturelle Praxis und soziale Beziehungen erfahrener, konstruierter Raum begriffen. Die Regionen werden infolgedessen als „Kulturraumverdichtungen“ definiert, die aufgrund der schwindenden Bedeutung der Nationalstaaten eine Aufwertung als identitätsstiftende Bezugspunkte erfahren. Dass diese Räume aber nicht „sind“, sondern erst hervorgebracht werden, ist einer der Ausgangspunkte der Tagung, die zwischen dem 21.und 23. Juni stattfand und vom Leiter des Brennerarchives in Innsbruck, Johann Holzner in Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Kulturinstitut organisiert wurde. Anwesend ein diskussionsfreudiges Publikum, einige Professoren der Germanistik der Universität Innsbruck und die Südtiroler Autoren Sabine Gruber, Sepp Mall und Josef Oberhollenzer, die am Freitagabend eine Lesung hielten.

Die Vorträge, die während dieser Tage das Problem der regionalen Literaturgeschichtsschreibung erörterten und eingrenzten, reichten von Literaturtheorie in Reinform („Literaturgeschichte oder Kulturraumforschung? Methodologische und systematische Problemstellungen regionaler Literaturgeschichtsschreibung“) über literarische Entwicklungen („Die Rückkehr in die Regionalliteratur“) bis hin zu anschaulichen Analysen des Themas durch Werke Südtiroler Autoren („Nenne die Namen der Gegenstände (Bettel/Blume) als gehörten sie mir“ – „Und baute aus Honigen mein Haus.“ Formen von Sprachmagie in den Gedichten Sepp Malls und Oswald Egger“). Es dauert nicht lange und das Wort Metawissenschaft fällt, es geht um die Regionalität, die wiederum Schablonen für die Konstruktion von Regionalität liefert und um die Erzeugung von Selbstbildern über die Literatur und deren Einordnung.

In dem Vortrag zu Formen von Sprachmagie, zieht Eleonore De Felip Parallelen zwischen den lyrischen Texten von Sepp Mall und Oswald Egger.  Sie stellt die These auf, dass beide Autoren  Impulse des Kulturraumes Südtirol in poetische Verfahren umsetzen: Diese poetischen Verfahren kreisen um Sprachgedächtnis und Grenzziehungen. Grenzen, so die Vortragende, sind in Südtirol auch sprachlich inszeniert. N.C. Kaser begann während der 70er-Jahre gegen diese Grenzen anzusprechen, auch Mall und Egger würden dies tun – jeder auf seine Art und Weise, mit den Waffen der Literatur. Eine Dame aus dem Publikum – mit Vorarlberger Dialekt – stellt die Theorie in Frage, da für sie ein spezifischer Zusammenhang zwischen Südtirol und Grenze nicht ersichtlich wäre. Grenzen, so die Dame, gäbe es überall. Mir schießen Bilder von Carabinieri mit Maschinenpistolen in den Kopf (Grenzgebiet), ich denke an getrennte Jugendzentren, getrennte Kulturinstitute, getrennte Schulen, getrennte Parteien, getrennte Freundeskreise, getrennte Bars… Ja, natürlich gibt es überall Grenzen, doch nicht überall sind diese Grenzen institutionalisiert und die Mauern so dick. Fast so, wie die in dem schönen Schloss Goldrain.

Interview mit Sigurd Paul Scheichl, Professor für Germanistik an der Uni Innsbruck:

Welches waren die Schwerpunkte der Tagung?
Einige Referate waren sehr theoretisch und nicht unbedingt mit Bezug auf die Region Südtirol und haben das Problem der regionalen Literaturgeschichtsschreibung präsentiert und analysiert. Ansonsten waren es vielfach Referate aktueller Südtiroler und Nordtiroler Literatur – dort stand die Fragestellung im Mittelpunkt, wie diese Autoren in die Tiroler Literaturgeschichtsschreibung eingeordnet werden können.

Kann man spezifische Charakteristiken der Südtiroler Literatur nennen? In der Tagung war die Rede von der Grenze als poetologisches Konzept…

Die behandelten Autoren sind einfach zu unterschiedlich, man kann sicher nicht von Einheitlichkeit sprechen und ich vermute auch, das ist gar nicht möglich. Das wäre vielleicht in der Südtiroler Literaturszene bis in die 1990er-Jahre herauf möglich gewesen, spezifisch Südtirolerische Merkmale der Literatur festzustellen. Inzwischen hat sich die Literatur jedoch sehr differenziert und die Südtiroler Autoren kaum noch anders als andere Autoren. Es gibt natürlich schon Texte, die sich in den Motiven ähneln, in der dahinterstehenden Lebenserfahrung bzw. der  Südtiroler Situation. Dies ist  zum Beispiel beim Buch „Über Nacht“ von Sabine Gruber ganz deutlich zu erkennen.

Kann man da von einem Boom der Regionalliteratur sprechen – Stichwort Südtirol Krimi?

Es gibt den Nordtiroler Krimi, den Bayern Krimi… da gibt es vom Leseverhalten her sicherlich ein Bedürfnis nach regionaler Literatur. Es ist natürlich bezeichnend, dass diese Verkaufserfolge jetzt gerade auf der Ebene des Krimis erfolgen, also auf einer populären Ebene.
Ist natürlich auch die Frage, ob diese ad-hoc schnellgeschriebenen Krimis mehr als ein Modephänomen sind, da doch die literarische Qualität darunter leidet. Das Phänomen als solches ist interessant.
Die Regionale Literatur hat natürlich auch mit den gesellschaftlichen Umständen, sprich den Förderungen zu tun – Bücher mit Südtirol-Bezug werden gesondert gefördert. Dies ist jedoch auch notwendig: Würde Ulrich Ladurner ein Buch über Afghanistan schreiben, erreicht er damit weit mehr Leser, als wenn er über das kleine Land Südtirol schreibt. Zudem werden von den Medien nur die „großen“ Autoren wahrgenommen, wird der Fokus auch auf die Regionalliteratur gelegt, wird auch Raum geschaffen für Autoren, die noch weniger bekannt sind.

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