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January 16, 2012

Diskretion und Verschwiegenheit. Sabine Gruber zum 100. von Franz Tumler

Sabine Gruber

Dennoch eine Würdigung.

Bei Hilde Spiel, der Salondame und großen österreichischen Literaturkritikerin, war Tumler Gast am Wolfgangsee gewesen. Er ist auf einer berühmten Gästeliste verzeichnet, auf der auch Namen wie Thomas Bernhard, Heimito von Doderer, Rolf Hochhuth, Leo Perutz oder Reinhard Prießnitz stehen – um nur einige zu nennen. Hilde Spiel, eine Wiener Jüdin, die während des Nationalsozialismus emigrieren mußte und nach dem Krieg eine führende Rolle im Literaturbetrieb innehatte, verzieh Heimito von Doderer für seinen Roman „Die Strudelhofstiege“ seine kurzfristige NS-Parteimitgliedschaft. Hätte sie auch Tumler verziehen, wenn sie erfahren hätte, daß er bei der NSDAP und SA gewesen war?

Hat Norbert C. Kaser mitbekommen, daß Tumler bereits 1936 Mitglied des nationalsozialistischen „Bundes der deutschen Schriftsteller Österreichs“ geworden war, eine im Auftrag der Reichsschrifttumskammer gegründete Vereinigung? Hat er gewußt, daß der „Vorbote“ – wie er Tumler in der „Brixner Rede“ betitelt – seine Laufbahn als Schriftsteller 1934 bei der „Oberösterreichischen Morgenzeitung“ begonnen hatte, welche der NS-Ideologie nahestand? Hat er erfahren, daß Tumler von 1934-1944 für die Zeitschrift „Inneres Reich“ geschrieben hat, welche der NSDAP als Werbeforum für ihre eigenen politischen Ziele gedient hatte? Hat er gewußt, daß Tumler mit mehr als fünfzig Beiträgen einer ihrer wichtigsten Autoren war, daß er zahlreiche Einladungen erhielt, weil er auf der „Vorschlagsliste für Dichterlesungen“ der Reichsschrifttumsstelle im Propagandaministerium stand?
Hätte Kaser Tumler mit diesem Hintergrundwissen noch den „Vater unserer Literatur und unseres Erkennens“ genannt?

„Zu sagen sei noch …,“ schrieb Jean Amery im Jänner 1977 über Tumler, „daß die Bilder leuchten, die Töne klingen, die Rhythmen uns mitnehmen, daß die Diskretion eines, der sich nicht wichtig macht, uns heimisch werden läßt in einem Text, den wir wieder und wieder lesen.“ Mit diesen Worten hat Amery seinem Jahrgangskollegen Tumler in der österreichischen PRESSE zum 65. Geburtstag gratuliert. Im Oktober 1978 setzte Amery, der große Essayist und Wiener Jude, der in Auschwitz, Buchenwald und Bergen Belsen inhaftiert gewesen und gefoltert worden war, seinem Leben ein Ende. Hätte sich Amery vor den meisterlichen und selbstgenügsamen Sätzen Franz Tumlers verbeugt, wenn er gewußt hätte, daß Tumlers Diskretion auch Verschwiegenheit bedeutete? Wären die literarischen Geburtstagsgrüße ebenso freundlich und ehrerbietend ausgefallen, wenn Tumler seine Vergangenheit wichtig genommen und es als seine moralische Verpflichtung angesehen hätte, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen?

Ich stelle bloß Fragen, die sich nicht mehr beantworten lassen, denn Spiel, Kaser und Amery sind lange tot. Ich stelle Fragen, die jeder für sich selbst beantworten muß.
Ich bin eine Nachgeborene und hatte das Glück, in demokratischen, nicht diktatorischen Verhältnissen aufgewachsen zu sein und noch immer unter solchen leben zu können. In diesen „demokratischen“ Verhältnissen hatte man uns die NS-Vergangenheit Tumlers jedoch verschwiegen. In den ersten Geburtstagsanthologien fand ich keine klaren Worte zu Tumlers fragwürdiger Vergangenheit. Man wollte den zweifellos großen Dichter nicht „anpatzen“. Hinter vorgehaltener Hand hörte ich zwar schon in den Achtziger Jahren von Tumlers enger Beziehung zum NS-Regime reden, doch öffentlich wurde nicht darüber diskutiert. Selbst einige Intellektuelle, die bekannt für ihre kritische Haltung in diversen Südtirolfragen waren, thematisierte die NS-Vergangenheit des von ihnen hofierten und zum Vorbild stilisierten Dichters Tumler nicht.

Am 29. Mai 1981 war ich bei einer Tumler-Lesung auf der Brunnenburg gewesen. Ich besitze ein von Tumler signiertes Buch – seine Schrift verrät, daß er damals bereits einen Schlaganfall hinter sich hatte. Ich war siebzehn Jahre alt und eine bedingungslose Bewundererin des Dichters, hatte ihn in den späten Siebziger Jahren zum ersten Mal entdeckt. Es war die Edition Suhrkamp-Ausgabe von „Volterra. Wie entsteht Prosa“ aus dem Jahr 1962, die irgendwann in unserer Schulklasse kursiert war. Die Faszination für „Volterra“ hing ohne Zweifel auch mit den eigenen ersten Gedichten und Prosatexten zusammen, die konzeptuell der lyrischen Prosa Tumlers ähnlich waren. Die eigenen Texte nahmen, wie Tumlers Erzählung, häufig eine fremde Topographie als Ausgangspunkt, ohne auf die historischen und geographischen Koordinaten näher einzugehen.

Tumler läßt bereits Anfang der Sechziger Jahre die traditionellen Erzählmuster hinter sich und spart – weil er um die Gefahren des allzu Deutlichen, des in der Vorstellung längst Vorweggenommenen weiß – den Gegenwartsbezug aus. Erst im Akt des Schreibens, des Suchens nach Worten, entsteht „Volterra“, „in der Nähe“ – so Tumler – „verschwindet es.“ Bei Tumler lernte ich früh, daß Schreiben u.a. das Zurückholen von Erinnerung, das Nachzeichnen von Nicht-Erlebtem, die Unterwanderung oder Umgehung feststehender Phänomene bedeutet.

Tumlers Literatur war Ausgangspunkt für das eigene Schreiben.
Wo auch immer ich mich damals nach dem Autor erkundigte, bekam ich die üblichen Informationen: Geboren 1912 in Bozen. Nach dem frühen Tod des Vaters übersiedelte die Familie ins oberösterreichische Linz. Tumler besuchte dort das Bischöfliche Lehrerseminar und arbeitete anschließend als Volksschullehrer. Jetzt lebt er in Berlin. „Jetzt“ – das waren die späten Siebziger, frühen Achtziger Jahre.

Ich hatte damals keine Ahnung, daß er mit der Erzählung „Das Tal von Lausa und Duron“ 1935 eine Auflage von 300.000 Stück erreichte, daß er in den Dreißiger Jahren ein Bestsellerautor war, der es sich bereits 1938 – nur 3 Jahre nach seiner ersten Buchveröffentlichung – als Sechsundzwanzigjähriger leisten konnte, seine Stelle als Volksschullehrer aufzugeben und als freier Autor zu leben. 1938 hatte er sich am „Ersten Großdeutschen Dichtertreffen“ in Weimar beteiligt; Festredner war der Wiener Lyriker Josef Weinheber gewesen. Weinheber, damals ein Freund Tumlers, warf in seinem Vortrag u.a. Erich Maria Remarque vor, mit seinem Bestseller „Im Westen nichts Neues“ auf die „Vernichtung des deutschen Wesens“ abzuzielen und lobte im selben Atmenzug Hitlers „Mein Kampf“ als „dasjenige Buch, das uns Deutschen, allen Deutschen in der Welt, das Bewußtsein unseres Wesens, unserer Kraft, unserer Größe und unserer Pflicht wieder zurückgegeben hat.“
Bei diesem Treffen – so die österreichische Autorin, Augenzeugin und ehemalige Kurzzeitgeliebte Tumlers, Gertrud Fussenegger – wurden etliche Reden gehalten, Gedichte und Novellen vorgetragen; außerdem wurde die Schicksalsymphonie aufgeführt. Danach gab es unter der Anwesenheit des Propagandaministers Joseph Goebbels einen Empfang im Weimarer Schloß.

„Mag die Mitarbeit Tumlers am ‚Inneren Reich’ trotz einer ganzen Reihe eindeutig politisch motivierter Beiträge vielleicht im ganzen noch als ein – dem Charakter der Zeitschrift entsprechender – Versuch der Aufrechterhaltung und Rettung eines literarischen Anspruchs gelten, bei Tumlers Beteiligung an ‚Ostmark’-Anthologien und an offiziellen Huldigungswerken für Adolf Hitler ist dieser Schluß nicht mehr möglich.“ schreibt der Klagenfurter Germanist Klaus Amann in seinem Buch „Die Dichter und die Politik“.

Von einem Irrtum kann nach all diesen Mitgliedschaften, einschlägigen Publikationen und Beteiligungen nicht mehr gesprochen werden. Es waren autonome Entscheidungen, die der Autor Tumler getroffen hatte. Prominenz und Auflagenstärke waren zur damaligen Zeit nicht unabhängig von einer rechten Gesinnung und einem dezidierten Bekenntnis zum Nationalsozialismus denkbar. Ob es ideologische oder ökonomische Gründe waren, die den jungen Tumler in die Hände der Partei trieben oder ob es reine Geltungssucht war, ist nicht eindeutig zu beantworten. Auch wenn sich die beiden ersten Buchpublikationen, „Das Tal von Lausa und Duron“ sowie „Der Ausführende“ einer eindeutigen ideologischen Positionierung entziehen, war Tumler in anderen Werken, vor allem in seiner Lyrik und in zahlreichen Aufsätzen, mehr als deutlich. Es sind dies Texte, welche die Überlegenheit des deutschen Volkes hervorstreichen und die Ausdehnung des Deutschen Reiches in den Osten und damit den deutschen Expansionskrieg legitimieren.

Tumler geht sogar so weit, holländische Kinder, die sich im Nachbarort aufhalten, als fremd anmutende Mischlinge zu beschreiben: „… sie haben Malaienblut aus den Kolonien mitgebracht. Hier trägt sich etwas herein von einem Leben, das wir nicht verstehen. Und wieder im Nachbarort wohnen Kinder, an denen ein Wesen ist, das sich noch einmal anders fremd absetzt von dem unseren. Es ist eine trostlose Ungebundenheit an allem Verhalten.“

Der Linzer Germanist Christian Schacherreiter erklärt sich Tumlers nationalsozialistische Gesinnung aus dessen Südtiroler Wurzeln. Mit dem Anschluß Österreichs an Hitler-Deutschland wuchsen auch Tumlers Hoffnungen für Südtirol, dessen spezielle politische Situation ihm am Herzen lag.
In einem Werkstattgespräch mit dem Prager Germanisten Peter Demetz meinte Tumler, die Zeitschrift „Das innere Reich“ habe in ihrem Namen die Vorstellung ausgedrückt, „daß sich … abseits…ausgespart vom äußeren Reich ein ‚Inneres Reich’ etablieren kann.“ An keiner Stelle gibt Tumler zu, daß er den ideologischen Anforderungen des „äußeren Reichs“ immer wieder zu genügen trachtete. Auch auf die dezidierte Frage Demetz’, wann er aufgehört habe, für diese Zeitschrift zu arbeiten, antwortet Tumler nicht wahrheitsgetreu. „Ich kann das nicht genau sagen, wann ich aufgehört habe. Ich hab’ immer Gedichte hingeschickt.“ Dieses Wörtchen „immer“ verrät jene Kontinuität, die nahezu zehn Jahre umfaßte und mir als Autorin unbegreiflich bleibt.

1941 meldete sich Tumler freiwillig zum Kriegsdienst, er wurde zur Kriegsmarine eingezogen, doch bereits im August 1942 wurde er mit der Begründung, er stünde auf der „Führerliste“ der „gottbegnadeten Künstler“ wieder entlassen. Neuerlich bat er, eingezogen zu werden; das Propagandaministerium gab dieser Bitte statt.
Im Gespräch mit Peter Demetz hat Tumler den Wunsch, in den Krieg zu ziehen, damit erklärt, daß er den Forderungen, die an ihn als Autor gestellt worden waren, zu entfliehen versucht habe. Die fortdauernde Produktion ideologischer Texte spricht aber eine andere Sprache. Von der Rechtfertigung eines Jazz-Musik-Verbots bis zur Hervorhebung der Kraft und Ursprünglichkeit der Deutschen ist alles weiterhin da.

Tumler hat nach dem Krieg geschwiegen, er hat sich aber literarisch und poetologisch vom Nationalsozialismus distanziert – und er hat ein unvergleichliches Werk geschaffen. Frappierend ist, daß Tumler, der erste herausragende Schriftsteller aus Südtirol eine persönlich zwiespältige Geschichte hat, welche diese radikale moderne Postion nicht vermuten ließe.
Als ich Mitte der Achtziger Jahre Näheres über Tumlers Vergangenheit erfuhr, reagierte ich in meiner tiefen Enttäuschung vorerst mit Lektüreboykott. Erst in den letzten zehn Jahren habe ich mich wieder intensiv mit Tumler befaßt, mit seiner Vergangenheit und mit seinen Texten.

Die Erkenntnis- und Sprachkrise, sein Erzählmißtrauen und sein literarischer Skeptizismus, machten aus Tumler einen der bedeutendsten Erzähler der Nachkriegszeit. Zu den Höhepunkten seiner literarischen Produktion zählt zweifelsohne der Roman „Aufschreibung aus Trient“ (1966), es ist dies neben „Volterra. Wie entsteht Prosa“ das interessanteste Buch. „Aufschreibung aus Trient“ schließt an die Werke „Der Schritt hinüber“, „Der Mantel“ und „Volterra. Wie entsteht Prosa“ an, und zeigt den Erzähler als Suchenden. Für Tumler, der ohnehin jede Geschichte als etwas Verfälschtes betrachtet, wird das Schreiben zur Inspektion der Wirklichkeit, zur akribischen Recherche, das, was geschieht, kann nicht als erzählte Erfahrung wiedergegeben werden, es bleibt eine „Aufschreibung“, eine Art Dokumentation der Ereignisse.

Aus Tumlers Roman lernen wir vor allem, daß die Gegenwart nur durch die „Anwesenheit einer anderen Zeit“ verständlich wird, daß die „festgemachten Sätze“ aufgelöst werden müssen.
Man kann seine Nachkriegstexte nicht unabhängig von seiner früheren Gesinnung lesen; seine Prosa der Sechziger Jahre wendet sich – wenn auch nicht explizit, so doch formal konzeptionell – von jeder Gewißheit und Eindeutigkeit ab. Die Wirklichkeit zerfällt, „verschwimmt und schrumpft ein“. Alles hat an Glaubwürdigkeit verloren. Man wünscht sich insgeheim, Tumlers Zweifel an den Unzulänglichkeiten der Sprache, hätten auch dem NS-System gegolten. Andererseits wären diese hochmodernen Prosatexte möglicherweise ohne politische Diskretion nicht entstanden. Sie sind Ausdruck von einer großen Verunsicherung und Vereinsamung, kreisen um Schuld, hinterfragen gewohnte Zusammenhänge und Anschauungen, erachten nichts als selbstverständlich.

Artikel erschienen in der ff Nr. 02 vom 12. Januar 2012.

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