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September 7, 2011

Szczecin 04: Gespräch mit Elzbieta Nowakowska-Kühl

Reinhard Christanell

Grenzstädte haben meist ein drückendes, bedrücktes Schicksaal. Nichts geht reibungslos, natürlich – normal. Alles ist zweiseitig, umstritten. Alles muss erkämpft werden. Es fehlt die hundsgewöhnliche, sorglose, gemütliche Alltäglichkeit. Die Geschichte frisst uns die Gegenwart und Zukunft vom Teller. Und oft dauert es eine unendliche Zeit, bis ein unmerklicher Schritt vorwärts gemacht werden kann – während ein Augenblick des Wahnsinns (oder der Fahrlässigkeit) genügt, um alles wieder zu zerstören. Und doch: gerade in dieser „sinn- und aussichtslosen“ Schizophrenie liegt ein unleugbarer Reichtum verborgen, den wir nicht missen können. Ein Reichtum, der immer in Reichweite scheint – und sich doch wieder unserer suchenden Hand entzieht und zeitweise unseren Pessimismus heftig schürt.

Dieser Regel kann sich auch die Oderstadt Stettin, bis 1945 in Deutschland, heute am westlichen Ende Polens aber im Herzen Europas gelegen,  nicht entziehen. Zum Abschied unseres Aufenthalts sprechen wir darüber mit Elzbieta Nowakowska-Kühl. Sie lebt als Architektin zwischen Berlin und Stettin und ist Vorsitzende des Club Storrady, der seit einigen Jahren in Stettin tätig ist und auch die Kandidatur Stettins als Kulturhauptstadt Europas 2016 unterstützt hat.

Franz: In Stettin erlebt man seit einer gewissen Zeit eine kulturelle Aufbruchstimmung, die Stadt scheint schnellen Schrittes in Richtung Europa zu marschieren. Teilen Sie diese Meinung?

Elzbieta Nowakowska: Finden Sie? Das freut mich – aber ich kann leider diese Meinung nicht ganz teilen. Es gibt einzelne Menschen und Initiativen, die wirklich  diese Aufbruchstimmung schaffen, in diese Richtung gehen  und dadurch die Entwicklung der Stadt fördern. Sie sind aber sehr „zerstreut“, und wissen oft nichts voneinander. Es ist manchmal so, dass man im restlichen Polen mehr über Stettin  weiß, als in Stettin selbst. Das betrifft fast alle Bereiche.

Eigentlich sind es nicht viele, die „offen“ nach Europa blicken und die damit verbundenen Möglichkeiten wirklich wahrnehmen. Nur ca. 2-3% der Stettiner wagen sich nach Berlin zu fahren. Die Möglichkeit, so preiswert und schnell in eine Weltmetropole zu reisen,  entdecken hingegen  in Stettin Gäste aus andern Regionen, aus dem Ausland. Der 8 Uhr-Zug ist meist leer, obwohl es nur zwei Waggons gibt. Ich frage mich warum.

Wer sind also die “neuen” Stettiner 2011? Eine neue Generation, die die Konflikte des vergangenen Jahrhunderts nicht vergessen aber hinter sich gelassen und eine neue Beziehung zur eigenen Stadt und zum restlichen Europa entwickelt hat?

Ich glaube, die neuen Stettiner kommen von Außen. Das ist keine populäre Meinung, die ich hier vertrete – vielleicht gegenüber manchen  sogar ungerecht,  aber im Allgemeinen richtig. Nicht die, dessen Eltern oder Grosseltern nach dem Krieg in eine schnell  leer geräumte Wohnung eingezogen sind. Sie können sich auf Grund dieser Vergangenheit nur schwer mit dieser Stadt  identifizieren. Schließlich waren sie gezwungen, in fremden Betten zu schlafen und Früchte von Bäumen zu pflücken, die sie nicht gepflanzt hatten. Und nachdem ihnen in ihrer alten Heimat (im Osten) dasselbe Unrecht angetan wurde, können sie mit ihren Gefühlen nicht fertig werden. Dieses Unbehagen überträgt sich auf Kinder und Enkel – oft, oder meistens, unbewusst.

Stettin als Grenzstadt zwischen Ost und West, zwischen Sprachen, Völkern und Kulturen, scheint nun die schwierige aber faszinierende Aufgabe erfüllen zu wollen, Brücken zu bauen und Beziehungen zu knüpfen, . Entsteht dadurch so etwas wie ein “Stettiner Selbstbewusstsein”, das anders ist als jenes der anderen Menschen in Polen?

Noch nicht. Es ist ein Prozess und ich glaube er hat langsam angefangen. Stettin braucht Menschen, die alle Vorteile der Stadt sehen und nutzen und frei vom „Stettiner Pessimismus“ sind. Diese Eigenschaften sehe ich natürlich auch bei einigen jungen Menschen, aber momentan meisten bei „Wahlstettinern”, von welchen es aber noch viel zu wenige gibt. Ich habe nie so viel gute Meinungen und Liebeserklärungen an Stettin gehört, als  von Leuten, die von woanders hierher gekommen sind. Es hat sich natürlich eine kleine Gruppe gebildet, die ehrlich an Stettin hängt, aber das kann man nicht mit dem Selbstbewusstsein anderer polnischer Städte wie Poznan, Krakow, Warszawa oder sogar Wroclaw oder Gdańsk vergleichen. Dies, obwohl z.B. die Breslauer eine ähnliche Geschichte hinter sich haben. Vielleicht liegt es daran, dass Stettin abgelegen vom Zentrum Polens liegt und immer als die entfernte, arme Provinz betrachtet wird. Es war – und es ist immer noch so, dass Schauspieler, Professoren oder Politiker den Aufenthalt in Stettin als eine Art Exil betrachten; sie bleiben ein paar Jahre und verschwinden dann wieder.  Einige bleiben überhaupt nur 1-2 Tage in der Woche und fahren am Wochenende zurück.

Was erwartet sich Stettin von Europa und was kann es Europa geben?

Stettin braucht „Entdecker“, Investoren, Leute, die die Häuser im Zentrum attraktiv finden und bewohnen wollen. Leute, die froh und stolz sind, in Altbauwohnungen zu wohnen und nicht in Randbezirken auf der „grünen Wiese“, wie das jetzt Mode ist. Und hauptsächlich Leute, die hier bleiben möchten  und langfristig denken. Stettin bietet abgesehen von Natur, Wasser und Wäldern eine sehr zentrale Lage – aber nicht von Polen aus gesehen (da sind wir Provinz), sondern von Europa aus. Es ist nur ein Katzensprung nach Berlin, nach Kopenhagen, ans Meer. Verstecktes Menschenpotential .

Das Zentrum der Stadt braucht Spielplätze, durchgehend  belebte grüne Höfe, kleine Cafes und Bars – und nicht nur Banken, Optiker und Apotheken.  Das alles ist möglich, wenn das Zentrum wieder dem „normalen Bewohner“ zurückgegeben wird. Momentan wohnen im Zentrum vorwiegend (bis zu 80%) Asoziale, Langzeitarbeitslose, Trinker. Die Leute haben Angst, im Zentrum zu wohnen.  Sie fahren in die Stadt, um ihre Geschäfte zu erledigen; am Nachmittag sind sie wieder in Bezrzcze, Mierzyn, Wolczkowo oder sogar Kobylanka – Orte, die man in bis zu 40 Minuten Autofahrt erreicht.  In Stettin bleiben nur wenige, die dann nicht imstande sind, die richtige Stimmung zu schaffen und die Cafes und Bars rentabel zu machen. Von draußen kommt man abends auch nicht so einfach wieder in die Stadt – wobei die derzeitigen Bewohner ihr Bier lieber im Hauseingang oder im Treppenhaus trinken als im Cafe.

Kann man sagen, dass die Stadt diesen Sprung in Richtung Europa braucht, um wieder zurück zu sich selbst, zu ihren Wurzeln zu finden?

Stettin, wie jemand schon gesagt hat, muss aus dem „Dornröschenschlaf“ wachgeküsst werden.  Ich glaube, unsere einzige Hoffnung liegt darin, von Europa wahrgenommen zu werden. Dann wird uns auch unsere Regierung  in Warschau ernst nehmen. In Polen werden alle Entscheidungen zentralistisch gefällt und das unterscheidet uns von Deutschland,  wo die einzelnen Länder  mehr Freiheit und Autonomie haben.

Als Club Storrada haben sie viele Initiativen ins Leben gerufen, die auch die Kandidatur Stettins als Kulturhauptstadt Europas für das Jahr 2016 unterstützen sollten. Welche sind die wichtigsten davon? Zeigt die Bevölkerung Interesse?

Die Idee, sich als europäische Kulturhauptstadt zu bewerben, hatte als Hauptziel, den heutigen Zustand zu ändern. Es sollte  ein gemeinsames, erstrebenswertes Ziel für alle sein: Kulturinstitutionen, NGO-s, Politiker und Wirtschaftsleute –  und vor allem für die einzelnen Stettiner. Es war aber nicht so. Man kann viele Gründe nennen, warum wir nicht mindestens  die zweite Etappe erreicht haben. Vor allem: Wir haben nicht gemeinsam gekämpft. Niemand glaubte daran. Die pessimistische Einstellung hat gewonnen. Das Fehlen an Zusammenhalten. Das „nicht erkennen“, dass es eine Chance für alle ist.  Es wurde meistens als eine Initiative von einer Gruppe von mehr oder weniger Verrückten gehalten und  sowohl von der Bevölkerung als auch von den Politikern misstrauisch betrachtet.  Dabei wurde mehrmals betont, dass es bei diesem Wettbewerb nicht um den „Titel“ geht, sondern um einen Prozess der angefangen hat und ohne Rücksicht auf das Ergebnis weiterverfolgt werden soll.

Ich setzte viel auf Initiativen, bei denen Menschen in einen direkten Dialog kommen. Das funktioniert meist nur in kleinen Kreisen. Riesige Festivals oder Konferenzen mit 100 Teilnehmern sind wenig wirkungsvoll. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind immer noch von Vorurteilen belasten – und komisch ist, dass die Deutschen das meisten gar nicht merken. Von außen sieht alles nett und unproblematisch aus. So ist es aber sehr oft bei Nachbarländern. Der zweite Weltkrieg  ist oft nur  ein Alibi für  Ressentiments,  deren Wurzeln viel weiter (tiefer) liegen als 1939. Die Polen sind ziemlich fremdenfeindlich und untolerant eingestellt.  Es sind Eigenschaften, die den Europaeintritt erschweren. Ich denke, unser Weg nach Europa führt durch Berlin (Deutschland) – nicht nur geografisch gesehen. Wenn wir (besonders Stettiner) mit der Angst vor den Deutschen fertig werden,  wenn wir das Anderssein zu schätzen anfangen, wenn wir uns selbst  gegenseitig mehr schätzen werden  – werden wir fähig, richtige Europäer zu sein.

Wie wird ihrer Meinung nach das Stettin 2050 aussehen? Wird die konfliktreiche Geschichte endgültig überwunden sein? Wird es in Zukunft ein mehrsprachiges Stettin geben, das als Aushängeschild für andere Realitäten Europas dienen kann?

Ich kann nur fantasieren:  schon die Vision „Floating Garden 2050“ ist eine schöne Perspektive. Wasserstadt, Internationale nicht nur fuer Touristen sondern auch fuer die Bevölkerung. Zweisprachigkeit als Selbstverständlichkeit, genau so wie Fahrradfahren in der Stadt . S-Bahn nach Berlin im Halben-Stunden-Takt, Schiffe direkt vom Bahnhof ans Meer entlang der Oder – bis nach Berlin und weiter.  Bewusstsein, dass wir als Stettiner etwas Besonderes haben, das andere nicht haben und darauf sind stolz und uns freuen, hier zu leben.

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