Music

August 1, 2011

Freie Musica: Kultur ist eine Tugend

Kunigunde Weissenegger
Konzertbesuche zu späterer Stunde sind in Südtirols größtem Ort nahezu eine Aktion der Unmöglichkeit, obwohl es nicht an Auditorium und Veranstaltenden mangeln würde. Die Verkalkung einer zukünftigen Kulturhauptstadt.

Samstag Vormittag, Mitte Mai 2011, Bozen, Museumstraße, eine Terrasse. Musik von den Swingin’ Pavones – könnte ruhig auch eine andere Musikgruppe sein – dieses Mal dürfen sie daran glauben. Optimale Terrasse zum Spielen und Zuhören. Und eigentlich viel zu schade für’s bloße Pizza-am-Stück-essen. In hörbarer Nähe rauschen Stadtbusse vorbei und werden ignoriert, das lauschige Konzert lässt sich nicht stören. Keine und keiner beschwert sich. Alles easy. Für 15 Minuten. Dann geht’s rund: Die Stadtpolizei steht auf der Terrassenmatte und bricht das Konzert ab. – Auf Beschwerde der Anrainerinnen und Anrainer. (Welcher? – Das Haus nebenan verfällt seit Jahren langsam und sicher vor sich hin.) (Und warum beschwert sich nie jemand über den Verkehr? – Der gehört, im Gegensatz zur Musik, anscheinend zu einem vernünftigen Stadtbild.) Nun, wo das Konzert in unserer Zeitleiste mit einem letzten Blues abrupt endet, beginnt, die Geschichte einer Initiative, die das Thema Live- und Disko-Musik und einen Kontrabass spielenden Ötzi auf ihre Fahnenstangen bindet: Freie Musica Musik Libera schlägt der Politik vier „praktisch umsetzbare Maßnahmen“ mit zehn Unterpunkten vor, die für das nächtliche Ruhebedürfnis der Städterinnen und Städter und für das nächtliche kulturelle Treiben der künftigen Kulturhauptstadt eine verbindende Formel und verbindliche Regelung finden und nach sich ziehen soll. (Klingt nach Schwesternheimregelung – ,Nach 23:00 Uhr ist aber Schluss!‘ – spielt sich aber in einer Provinzhauptstadt ab.) Dass die Musikerinnen und Musiker nicht provozieren wollen, sondern dass ihnen eine gerechte Regelung wirklich am Herzen liegt, machen sie mit einer Aktion Anfang Juni 2011 deutlich und veranstalten in der gesamten Stadt die Stillen Konzerte. Sie spielten beziehungsweise spielten eben nicht unhörbare Noten auf ihren Instrumenten und sangen mit stummen Lippen lautlose Lieder. Die tonlosen und wortkargen Konzerte endeten vor dem Bozner Rathaus mit einer, diesmal etwas klangvolleren und hörbaren musikalischen Einlage.  

Rund zwei Monate später geduldiges, zwar gespanntes Warten, diszipliniertes Platznehmen. franz hat zum Runden Tisch gerufen, möchte allen Beteiligten in diesem Forum die Möglichkeit bieten, den verschiedenen Standpunkten Raum zu geben. Geladen sind Vertreterinnen und Vertreter der Landes- sowie Stadtpolitik sowie der Initiative Freie Musica Musik Libera. Eine Woche vorher hatten sich Bozens Kultur- und Umweltstadträtin Patrizia Trincanato, Umweltlandesrat Michl Laimer, Landeshauptmannstellvertreter Christian Tommasini und Freie Musica hinter verschlossenen Türen getroffen und die Themen Lärmbelästigung und Musikveranstaltungsorte besprochen. Die Seiten sind im Grund einsichtig und verstehen sich. „Das Gesetz schützt die Ruhe, aber nicht die Musik und Unterhaltung. Deshalb ist eine Anpassung der Regelungen notwendig und eine Art und Weise zu finden, Veranstaltungen zu verteilen und zu regeln, mit denen ein Großteil der Bevölkerung zurecht kommt,“ steigt Bürgermeister Luigi Spagnolli in die Diskussion ein, nachdem Vanja Zappetti von Freie Musica mit einer Erläuterung der Notwendigkeiten und Forderungen besagter Gruppierung eingeführt hat. Laut Freie Musica, sowie anderen Initiativen wie Save the Nightlife Südtirol oder SOS BZ, müssen Uhrzeit, Dezibel und Lizenzen einheitlich geregelt werden, damit – sollten dennoch Beschwerden erfolgen – keine subjektiven Bewertungen der Situationen passieren. Konkret heißt das, eine Überarbeitung der bestehenden Gesetze, die Lizenzen und Genehmigungen von Veranstaltungen regeln. – Angefangen bei dem zur Zeit in der ausgestellten Veranstaltungsgenehmigung enthaltenen Satz: „Die Lautstärke der Musik muss gehalten werden, damit die Anrainer nicht gestört werden, widrigenfalls die Ermächtigung von Seiten der Kontrollorgane unverzüglich eingestellt und eingezogen würde.“ – Was soviel heißt, wie eine willkürliche, nach subjektivem Ermessen beliebige Bewertung der Lautstärke. (Nach dem Motto: Finger befeuchten und in die Luft halten …) – Bis hin zur Definition von nächtlichen Unterhaltungslokalen, die zur Zeit zwischen ‚Nachtclub‘ und ‚Tanzlokal‘ unterscheidet, wobei ersterer bis 5:00 Uhr geöffnet halten kann und zweiteres nicht. Außerdem müssten bei einer Beschwerde laut Freie Musica die Personendaten sowie Art und Anzahl der eingegangenen Beschwerden festgehalten werden, damit im Fall wiederholter und unberechtigter Reklamationen, der Anrufende mit Sanktionen bedacht werden kann.  

franzmagazine Runder Tisch 2011 MusikPolitik und Musik am Runden franz-Tisch: Fabio Gobbato, Thomas Brancaglion, Christian Tommasini, Patrizia Trincanato, Luigi Spagnolli, Klaus Ladinser, Vanja Zappetti (Foto: Luca Meneghel)

Wenn sich nun offenbar die an der Diskussion Beteiligten verstehen, was macht die Situation dann schwierig? Wieso liegt über der Landeshauptstadt ein Schatten der Unzufriedenheit? – In anderen Städten und Dörfern herrscht mehr Zusammenhalt; es wird zusammen gefeiert und organisiert. – Gibt es keine oder weniger Beschwerden, weil alle beteiligt sind? Es wird doch nicht eine der sieben Hauptsünden sein, die den Bozner oder die Boznerin, egal welcher Sprachgruppe, plagt? Patrizia Trincanato meint zu Eingang ihrer Wortmeldung augenzwinkernd, eine „gute Seite“ habe die Sache ja – Live-Musik würde, unabhängig von der Sprachgruppe, von einigen Bürgerinnen und Bürgern als Ruhestörung empfunden; es sei schön, wenn dieses Verlangen nach Ruhe einmal mehr die deutsche und italienische Bevölkerung einige. „In der Praxis ist es so,“ erklärt sie dann, „wenn eine Bürgerin oder ein Bürger bei der Stadtpolizei anruft und sich über Lärm oder Ruhestörung beschwert, dann muss diese die beanstandete Veranstaltung kontrollieren.“ Trincanato ist Stadträtin sowohl für Kultur als auch für Umwelt und hat somit die richtige Voraussetzung, um, wie von der Gemeinde beauftragt, zusammen mit Freie Musica eine Lösung der Situation zu erreichen. Im September 2011 wird es das nächste Treffen geben. Ein Ziel ist es auch, eine Liste mit möglichen Spielorten und -zeiten zu erarbeiten, damit nicht immer die Ohren der selben Nachbarn ,strapaziert‘ werden, das Stadtzentrum weniger ,belastet‘ ist und einhergehend die anderen Stadtviertel an Attraktivität gewinnen. Eine Mediation – hoffen wir, dass es nicht eine derartige wird, wie wir sie in Südtirol schon hatten – soll es auch geben. Wie die meisten in der Runde ist auch Patrizia Trincanato für eine kulturelle Sensibilisierungsarbeit und einen Dialog. 

Ein Sensibilisieren der Bürgerinnen und Bürger der Stadt Bozen scheint auf jeden Fall notwendig zu sein. – Wollen sie nicht so recht einsehen, dass sie nicht allein die Stadt bevölkern und es noch andere gibt? – … vielleicht braucht es auch eine Sensibilisierung der anderen Seite? Laut Thomas Brancaglion von Freie Musica sei eine Mediation zwischen Stadtbewohnertum und Musikszene essenziell. Und es müssten Gesetze geschaffen werden, an denen sich die zum Ort des Geschehens gerufenen Ordnungshüter orientieren können und müssen, und so anhand von objektiv messbaren Kriterien vorgehen können. Bozens Vizebürgermeister Klaus Ladinser gibt zu bedenken, dass die Stadt Bozen jedoch nicht mit anderen Städten verglichen werden könne. Die Boznerinnen und Bozner seien sicher sensibler als andere Stadtler und jede Toleranz habe ein Limit. Aber auch er ist der Meinung, dass ein Weg gefunden werden müsse, um alle Beteiligten zufrieden zu stellen. In Wohnzonen jedoch würde Musik mit Verstärker immer ein Problem sein. Auch seien nicht nur Gesetze zu schaffen, sondern auch der Hausverstand einzusetzen, fügt er hinzu. Stadträtin und Vizebürgermeister sind sich einig: Nur die Stadt selbst könne wissen, was für sie gut ist. Landeshauptmannstellvertreter Christian Tommasini unterstreicht diese Aussage: Es gebe kein Landesgesetz, das es verbiete, nach 23:00 Uhr Musik zu machen. Eine Regelung der Angelegenheit obliegt also den Gemeinden. Auch für ihn wäre eine Sensibilsierungsarbeit und ein Nachdenken über Orte unabdingbar. Sicher – ein Treffpunkt, in dem sich Musikerinnen und Musiker ausleben können, ist vonnöten, wenn die Nächte still und lieblich sein und Beschwerden ausbleiben sollen. – Wie wäre es mit der Sill oder dem Bunker Nr. 14 oder dem Ex-Alumix oder anderen leerstehenden Gebäuden in der Industriezone oder der Bahnhofsremise oder dem zukünftigen Bahnhofsareal oder dem Müllhügel Kaiserberg oder einem alten Tunnel oder dem Ex-Anas-Gebäude oder … Es gilt, sich zu rühren. In der Bewegung liegt die Kraft. Der Initiative angeschlossen haben sich quer durch stilistische, sprachliche und ideelle Richtungen inzwischen unzählige Musikerinnen und Musiker, Veranstaltungsorganisatorinnen und Konzertorganisatoren sowie eine beachtliche Anzahl an engagiertem Auditorium. Auch eine Diskothek in der Bozner Industriezone zeigte sich an der Sache interessiert, kontaktierte einige Initiativmitglieder, die Konzerte veranstalten, und schlug eine Zusammenarbeit vor. Das bisher eher einschlägig bekannte Tanzlokal lud als ersten Act die Punk-Rock-Band Tre Allegri Ragazzi Morti aus Pordenone ein, darauf folgten die Rapper Two Fingerz. Diese Art von Kooperation wäre ein zusätzlicher Weg, der eingeschlagen werden kann. 

Wenn Bozen dem restlichen Land nachkommen will, das laut Südtiroler Marketing Gesellschaft in den nächsten Jahren alle Möglichkeiten hat, der begehrteste Lebensraum in Europa zu werden, dann muss es sich rühren. Begehrt setzt nämlich auch und besonders kulturelle und kreative Vielfalt voraus, die sich auch nachts vernehmbar zeigen dürfen muss.

Freie Musica FOTO Gloria AbbondiFreie Musica (Foto: Gloria Abbondi)

L’invasione di piazza Municipio 
Grazie ad un tam tam via facebook il 16 giugno 2016 circa 150 musicisti si sono dati appuntamento davanti al Municipio per manifestare contro le regole che rendono quasi impossibile organizzare concerti nel capoluogo. La scintilla che ha fatto scatenare la protesta è stato l’Upload Day, quando un concerto organizzato dalla Provincia è stato interrotto dalla polizia municipale alle 10:30 del mattino con la richiesta di abbassare un po’ il volume. Pochi giorni dopo su facebook è nata Freie Musica Musik Libera, un gruppo sostenuto da qualche centinaio di ‘amici’: rocker ventenni, cantautori, jazzisti, compositori, promoter e associazioni. Il movimento che nel logo ha Ötzi che suona il contrabbasso è cresciuto rapidamente. Il giorno della protesta 28 gruppi sono stati protagonisti di ironici concerti silenziosi in tutto il centro città, dal Museion a via Grappoli. Quindi, sotto il municipio, dal silenzio si è passati al brusio alla protesta rumorosa che ha costretto il sindaco a interrompere la seduta del consiglio. Luigi Spagnolli ha di fatto dato tutta la responsabilità alle leggi provinciali, ma poi, nel corso dei mesi, è emersa in realtà la quasi piena discrezionalità dei sindaci. 

Illustration: Vanessa Moroder
Erschienen in franz Nr. 9 August > September 2011

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