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July 30, 2011

Man ist wer und war wo

Simon Cazzanelli

Jeder Moment ist einzigartig, so glauben wir. Jeder Augenblick ist vergänglich, unwiederbringlich versunken im Treibsand des Stundenglases. Wir können die Zeit nicht festhalten, den Moment nicht fixieren, nicht auf Papier und nicht in Worte. Blende, Entfernung, Verschlusszeit, Auslöser. Eine Kamera, egal ob High-Tech Smartphone, ‘usa e getta’ oder Profigerät mit Bildstabilisator, Mehrfeldmessung und ISO 6400. Jeder fotografiert. Jeder dokumentiert. Jeder sortiert und archiviert. Und wir überlassen dem Foto sich zu erinnern. Soll das Bild mir doch die Mühen abnehmen und mir ins Gedächtnis rufen was ich bin, wo ich war.

Dezente Bräune auf den Beinen, ein leer geräumtes Konto beim Bankinstitut und eine volle Speicherkarte im Sack. Am Ende des Urlaubes muss man etwas zu herzeigen haben. Man ist wer und war wo. Meine Fotos sagen mehr als tausend deiner Worte. Der Strand, die Aussicht, der Sonnenaufgang, der Wochenmarkt, der Hafen, die Gebirgswand, der Sonnenuntergang, ich, meine Freundin, der Interrail-Typ aus Dänemark, die alte Dame von der Metzgerei. Den Urlaub nehmen wir mit nach Hause, jeder noch so kleine Stück wird abfotografiert, abgetragen und zu Hause wie ein Puzzle zusammengesetzt. Wir sammeln und stapeln Erinnerungen. Unser Fotoalbum ist unser analoges Gedächtnis. Die Ordner am Rechner sind unser virtuelles Memento, ein digitales Post-It.

Bilder werden zu stummen Zeugen unseres Bedürfnisses immer mehr zu sehen, immer mehr Meilen Kerosin in die Luft zu blasen. Wir sind Sammler und Jäger, sammeln Sterne und jagen Last-Minute Angebote. Unser Reisepass wird zum Stickeralbum exotischer Destinationen, der Trolley-Koffer zum treuen Schoßhündchen und der Duty-Free Shop zum Rückzugsgebiet. Wir bereisen die Welt und sehen die Hand vor Augen nicht mehr. Wir sind zu Weitwinkel um die Details in unserem Leben überhaupt noch erkennen zu können. Wir wollen maximale Auflösung und können die Datenmenge an Bildinformation nicht verarbeiten. Grenzen sind egal, der Preis spielt keine Rolle, unsere Augen wollen aufs neue überrascht werden. Wir reisen, wir sehen, wir fotografieren.

Wahllos halten wir unseren Finger auf den Auslöser, versuchen im Sucher all das einzufangen, was uns umgibt. Alles scharf gestellt, Farben satt und kontrastreich, Konturen hart und Schatten weich. Jeder Motiv drängt so durch die Linse. Jeder Blickwinkel wird so zweidimensional auf Film gebannt. Wir vergessen den Grund und Umstand unserer Lichtmalerei. Wir verlernen, die Kehrseite, die 180° des Fotografen, mit in das Bild zu tragen. Wir verlassen uns auf ein 15 mal 10 Zentimeter großes Rechteck, auf ein Pop-Up Fenster unseres Facebook-Accounts. Man ist wer und war wo. Und hat vergessen warum.

www.where-is-this.com hilft, vergessene Orte aus unserem angestaubten Hinterkopf, wieder glasklar und fusselfrei zu sehen. Urlaubsbilder hochladen und Ferienerinnerungen downloaden. Denn, meine Fotos sagen mehr als tausend deiner Worte.

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