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November 5, 2018

“Dorthin gehen, wo es weh tut”: neunerhaus in Wien

Eva Rottensteiner

Wenn wir an Wohnungslose denken, fällt uns vielleicht der alte Mann mit der Rumflasche vor dem Billa ein. Wir denken an die magere Frau, die bei der U-Bahn nach einigen Cents bettelt, um ihre Drogensucht zu finanzieren oder an den Verrückten, der am Gehsteig mit einer Bierdose vor sich hin brabbelt. Im Normalfall drehen wir uns weg, starren beschämt den Boden an und suchen mit einem mitleidigen „Oh je, der Arme“ schnellst möglich das Weite zurück in unsere heile Welt aus Zuckerwatte, wo wir uns mit unseren First-world-Problems die Zeit vertreiben.
Aber wissen wir auch, dass die nette Nachbarin, ja genau die Kindergärtnerin im 5. Monat mit vier Kindern bald nicht mehr ihre Miete bezahlen kann, weil ihr Mann kürzlich verstorben ist und das Gehalt nicht ausreicht? Oder dass der freundliche alte Herr von der Straßenbahn, der uns immer die Tür aufhält, wenn wir wieder mal verspätet angerannt kommen, in Kürze seine Wohnung räumen muss, weil er mit seiner kleinen Rente nicht mehr für alle Kosten aufkommen kann. Was ist mit der schüchternen Frau aus dem 2. Stock, die immer wieder wochenlang bei Freunden auf der Couch schläft, aber letzten Endes dann doch wieder zu ihrem gewalttätigen Mann zurückkehrt, weil sie dort nicht ewig bleiben kann und ein Leben auf der Straße als Frau zu gefährlich wäre?

Armut, Obdach- und Wohnungslosigkeit hat mehr Facetten als wir es uns vorstellen und ist heute oft sehr versteckt. Genau dort will neunerhaus, eine Sozialorganisation im 5. Wiener Bezirk, ansetzen. „Dorthin gehen, wo es weh tut“, erklärt mir Daniela Unterholzner aus Meran, neunerhaus-Geschäftsführerin. Sie ist eine von vier SüdtirolerInnen, die sich gemeinsam mit der restlichen neunerhaus-Crew täglich für eine bessere Welt stark machen. neunerhaus bietet drei Wohnhäuser und über 170 Wohnungen für Obdachlose und Wohnungslose, ein Gesundheitszentrum auch für Nichtversicherte, ja sogar tierärztliche Versorgung für deren Vierbeiner, und das neunerhaus Café aka Grätzltreff mit „pay as you wish“-Prinzip an. Im Gegensatz zu anderen Unterkünften ist Alkohol in den Wohnhäusern nicht grundsätzlich untersagt und Hunde müssen auch nicht draußen bleiben, was viele Obdachlose zuvor von einem Schlafplatz in anderen Unterkünften abgehalten hat. Es wird mit den Ressourcen gearbeitet, die mitgebracht werden und wenn das eine Alkoholsucht ist, dann wird eben damit gearbeitet. Nach dem Housing-First-Prinzip dürfen Betroffene gleich und ohne Hürden in eine eigene Wohnung und werden von dort aus weiter betreut. Wer dort wohnt, zahlt auch Miete und hat entweder Arbeit oder wird nach und nach auch wieder in den Arbeitsmarkt integriert. Rund 570 Leute finden jährlich beim neunerhaus Unterschlupf und um die 4.400 PatientInnen profitieren von einer ärztlichen Versorgung im Gesundheitszentrum.

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Außerdem steht neunerhaus auch für Zugang zu Kultur für ihre KlientInnen. Aber Moment mal, Kulturzugang? Wie jetzt? Was will denn ein Obdachloser mit Kulturzugang anfangen, werden sich die einen oder anderen fragen. Daniela Unterholzner hat da klare Ansichten: Für eine gesellschaftliche Teilhabe spielt die Kultur eine zentrale Rolle: „Ich verwende hier einen sehr breiten Kulturbegriff. Dabei spreche ich nicht von einer Hochkultur, sondern davon, Dingen Bedeutung zu geben und diese zu diskutieren. Das kann auch mit Kunst oder anderen kulturellen Ausdrucksformen geschehen, denn es gehört mehr zur Kultur als bloß ein Konzert oder Theater.“ Deshalb holt sich neunerhaus auch immer wieder Leute aus der Kunst-, Kultur- und Kreativszene ins Boot. Einmal war es der Hausnachbar Volx/Margareten, eine Zweigstelle des Volkstheaters Wien, die beim alljährlichen Open House des neunerhauses Tanz- und Schauspielworkshops angeboten  haben, und ein anderes Mal die Barber Angels, eine Gruppe von freiwilligen FriseurInnen, die wie Rocker aussehen und aus ganz Deutschland und Österreich bis nach Wien getourt sind, um Obdachlosen einen kostenlosen Haarschnitt zu verpassen und damit wieder ein bisschen Selbstwertgefühl zurückzugeben. Daraus wurde ein ganzes Event mit guter Musik und gesundem Essen, einer der BewohnerInnen, ein Schauspieler, hat auch eine Lesung gehalten.

Daniela Unterholzner hat selbst viele Jahre im Kulturbereich gearbeitet und ist der Überzeugung, dass die Kulturorganisationen hinausgehen müssen, um bestimmte Zielgruppen zu erreichen: „Vom Finanziellen her ist es ein uninteressantes Publikum, das natürlich nicht die Abos für die Saison kaufen wird. Doch stellt sich hier auch die Frage nach dem öffentlichen Auftrag von kulturellen Institutionen. Wenn wir nicht wollen, dass Leute auf der Strecke bleiben, müssen wir ein gemeinsames Zusammenleben gestalten und dort spielt die Kultur eine fundamentale Rolle.“

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Eine Frage wäre da allerdings noch: Was hat gleich vier Exil-SüdtirolerInnen bis nach Wien gespült und dazu gebracht, Äpfel, Kühe und Knödeln hinter sich zu lassen? Nun, Daniela Unterholzner hat zwar eigentlich in Innsbruck studiert, aber nach einem Studienjahr in Bangkok war es ihr dort einfach zu fad und der Großstadtvirus hat sich bei ihr eingenistet. Er flüsterte ihr ins Ohr gen Norden zu siedeln. Als ihrem Mann eine Stelle an der Wirtschaftsuniversität angeboten wurde, fiel die Wahl eben auf Wien. Zwar nicht ganz so riesig und auch nicht ganz so nördlich, aber irgendwie hat es ihr dort wohl gefallen. Nach einigen Jahren in der Bildung und im Kulturbereich war es dann für den nächsten Schritt. Dorthin gehen, wo sie auf andere Weise etwas bewegen kann. Und welcher Ort eignet sich da besser als neunerhaus?! Ihre Arbeitskollegin Anna Hilber, zuständig für Brand Management und Event Marketing fürs neunerhaus Café, wollte eigentlich auch nur für ein Praktikum in Wien bleiben. Doch wie so viele vor (und nach) ihr ist sie dort auch „pickn bliebn“. Über verschiedene Kunst- und Kulturinstitutionen ging es für sie schließlich zu neunerhaus, weil sie ihre Fähigkeiten auch für einen sozialen Mehrwert nutzen wollte, wie sie mir erzählt: „Hier habe ich die Möglichkeit, im Rahmen meiner Arbeit aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken – einer Gesellschaft, in der ich selbst leben möchte. Jetzt bin ich seit einem Jahr dabei und finde es super. Die Energie und das Miteinander bei neunerhaus sind etwas ganz Besonderes!“

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Ganz nach dem Motto Kunst und Soziales veranstaltet neunerhaus am Montag (05.11.2018 um 19 H) zum 18. Mal Wiens größte Benefiz-Kunstauktion für zeitgenössische Kunst im MAK in Wien. KunstliebhaberInnen können Werke von namhaften Kunstschaffenden wie Herbert Brandl, Tone Fink, Bruno Gironcoli, Joanna Gleich, Alfred Haberpointner, Robert Hammerstiel, Clemens Hollerer, Martha Jungwirth, Hermann Nitsch, Drago Prelog, Arnulf Rainer und Walter Vopava ersteigern. Der Reinerlös geht an neunerhaus. Wer also nicht nur Bock auf Kunst hat sondern auch gleichzeitig etwas Gutes tun will, sollte den Weg ins MAK auf keinen Fall scheuen. Auch ein Bild des Südtiroler Künstlers Andreas Perkmann Berger findet man im Katalog zwischen den 178 Werken. Wer am Montag nicht zur Auktion kommen kann, hat die Möglichkeit dennoch per Kaufauftrag mitzubieten.

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Wer auch bereit ist die eigene Zuckerwatte-Welt hinter sich zu lassen und helfen möchte, kann das hier machen!

Photo Credits: neunerhaus + Johanna Rauch + Ursula Schmitz

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