Culture + Arts > Literature

September 20, 2018

„als dürfte man nur hiesigen Heiligen nachfolgen“: Josef Oberhollenzer

Verena Spechtenhauser

Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht durch alle lokalen Medien: Der Südtiroler Schriftsteller Josef Oberhollenzer hat es mit seinem Roman „Sültzrather“, erschienen im Folio Verlag, auf die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft. Dies ist eine gute Nachricht, auch wenn der Preis in den letzten Jahren immer wieder in der Kritik stand. Es ist aber vor allem auch ein guter Grund, sich mit dem Autor von Prosa, Lyrik und Theaterstücken – er liest übrigens am 29. September um 10 H in der Bozner Landesbibliothek Tessmann beim literarischen ½ Mittag aus seinem aktuellen Roman und weitere Lesungen folgen – näher zu beschäftigen. 

Wer ist Josef Oberhollenzer? Was macht dich aus?

Schwierig, darauf zu antworten. Fremdgesehen bin ich ein im Ahrntal Geborener, ein aus dem Ahrntal Ausgewanderter, dessen Sprache, dessen sprachlicher Rhythmus geprägt und getränkt ist von dieser Mutter-, dieser Vater-, dieser Kindheitssprache; einer, der dann Jus studiert hat und Germanistik und Geschichte und vieles andere mehr in den vielen Jahren an der Uni Innsbruck und anderswo; der Vater ist und Lehrer ist und Schriftsteller ist; und der zum Beispiel Brotausträger, Fahrkartenkontrolleur, Wildbach- und Lawinenverbauer, Schlafwagenbetreuer, Kellner oder Zeitungsausfahrer war – und noch das eine und andere mehr. (Und all das eine hat mit all dem anderen immer zu tun.) – Aber: Wer ist dieser J. O.?, also: „Was bin ich?“ Ich könnte den „Gantenbein“ bemühen und Max Frisch zitieren; ich könnte „Ich ist ein Anderer“ sagen mit Arthur Rimbaud („Je est un autre“) oder mit Peter Handke den Kaspar-Hauser-Satz: „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein andrer gewesen ist.“ Bei Robert Lembke damals wäre die Frage mit einer Handbewegung beantwortet gewesen. Ich, der ich (fast) keine Gedichte mehr schreibe, antworte mit zwei Gedichten aus dem Jahr 1982 darauf: was einer einmal gewesen schien.

lagebeschreibung

: hin
gestreckt lieg ich. 1.92 mein schatten
den ich erdrück/ an
zieh die beine zum kopf ich: mein schatten
1 geballter fleck unter mir, nicht sichtbar: die sonne
steht im zenit.

schmetterlingsflug

meine rede
ist eine unsichere rede, meine
rede sind wörter & pausen.
mein gang
ist 1 schwankender gang, mein
gang sind schritte, sind schritte.
mein denken
ist 1 suchendes denken, mein
denken sind reden & gänge.
gangs! mein
leben ist 1 schmetterlingsflug, loop.

In deiner Autorenbiografie steht: Rockbands haben deine Texte vertont? Wie kam es dazu und welche Bands waren das? Bist du glücklich darüber?

Das hat mit dem schmerzlich vermißten Georg Engl zu tun, der mein erstes Buch gemacht hat in der edition sturzflüge und der dieses Buch „in der tasse gegenüber“ getauft hat. Der hat eine sogenannte Kompaktkassette dazu gewollt mit meiner Stimme auf der einen Seite und mit Vertonungen auf der anderen Seite dieses längst aus der Welt verschwundenen Tonträgers; und so spielten auf der anderen Seite nun „Jasi“ (Benno Simma & Klaus Janek), „Still Blind“, „Near to Zero“, „Oskar und die Mysterien der bulgarischen Syntax“ und „Röar“ meine Gedichte mehr oder weniger laut. Mit den lauten „Still Blind“ begann danach eine längere schöne Zusammenarbeit – und mit einem der drei Kurtatscher Still-Blind-Brüder, mit Reinhold Giovanett nämlich, arbeite ich nun (oder: arbeitet er – mit mir) schon ein Vierteljahrhundert lang; und ein Ende ist nicht abzusehen. – Und ob ich glücklich darüber bin? Ja, ja, und noch einmal: Ja! (Ganz ganz leise und nicht weitersagen und unterderhand: Wollte Rocksänger werden, als ich 14 war.)

Ich habe außerdem folgenden Satz über dich gefunden: „Oberhollenzer steht in der Tradition Norbert C. Kasers, des bekanntesten Südtiroler Lyrikers“. Ist dies eine literarische Zuordnung in deinem Sinne? Wiegt so ein Erbe schwer oder lässt es dich eher kalt?

Auch wenn dies in Wikipedia so steht und wie sehr ich den Kaser auch schätze und auch wenn manches seiner Themen selbstverständlich auch eines meiner Themen neben anderen einmal gewesen ist: „Ich stehe NICHT in der Tradition Norbert C. Kasers; er ist mir NIE ein Vorbild gewesen; also gab es da NIE ein wie schwer auch immer wiegendes Erbe anzutreten. Und: Wenn mir einer aus unserer Gegend ein Vorbild einmal gewesen ist (und noch ist), dann der Wolkensteiner: der nahe Aibeln lange hausende Oswald von Wolkenstein – der ja.“ (Nicht kalt läßt mich die Beschränktheit, die Eingeschränktheit, die Eingeengtheit des Blicks im Einordnen, Zuordnen hier geschriebener Literatur, diese Ausgerichtetheit allen Südtiroler Schreibens auf den Gottvater Kaser; als gebe es immer zuerst diese hiesige literarische Provinz vor jeder anderen; als dürfte man nur hiesigen Heiligen nachfolgen. – „Ich aber“, habe Sültzrather einmal, heißt es, gesagt, „bete nur fremde Götter an.“)

Dein neuestes Buch „Sültzrather“ stand auf der diesjährigen Longlist des Deutschen Buchpreises. Fluch oder Segen? Große Ehre oder eher Bürde?

War mir selbstverständlich eine große Freude! Was sonst? (Und, in Klammern, wie du siehst, ein ziemliches Ungemach für einen, der es sich eingerichtet hatte am Rand.) Es IST mir selbstverständlich eine große Freude! Was sonst? 

Josef Oberhollenzer - Sültzrather (c) franzmagazine

Das zentrale Thema des Romans ist das Vergessen und die Erinnerung. Was fasziniert dich daran?

Daran fasziniert mich nichts, daran geht mich alles an. Nämlich: Es ist der Grund allen Seins. Nämlich: Es unterschiede den Menschen vom Tier, wenn denn der Mensch sich erinnerte; wenn der Mensch sich erinnerte, sagte man nicht von ihm, wie Georg Büchner am Ende seiner Erzählung „Lenz“ von (Jakob Michael Reinhold) Lenz sagt: „So lebte er hin.“ Oder, um ungefähr so zu antworten, wie ich schon einmal geantwortet habe: Ich kenne nur eine Welt, die erzählt werden will, die gerettet werden will, die nicht verschwinden will, die sich wehrt, in diesem Vergessensschlund, wie Vitus Sültzrather das schwarze Loch des Vergessens nennt, unterzugehen und so zu verschwinden, daß nicht einmal mehr das Verschwinden erzählt werden kann. Alle Kunst versucht ja nichts anderes, als all die Welt aufzubewahren auf irgendeine Weise. – Und der Sültzrather sieht aber die absolute Vergeblichkeit eines jeden Erinnerungsversuchs, weil ja alles schon im Erinnern sich verändert und das Erinnerte schon im Erinnern immer schon zu verschwinden droht, immer schon ein Anderes zu werden beginnt. Und dann sind da die Milliarden Menschen, die einmal gelebt haben und von denen niemand mehr weiß, von denen man nichts mehr weiß, nichts. (Einmal versucht der Sültzrather sich ja unter die Erde zu graben, zu den Toten hinab, den toten Nachbarn im Friedhof, neben dem er wohnt; versucht sich hinabzugraben zu den kaum noch Erinnerten – und zu den längst Vergessenen vor allem auch, für die es schon kein Grabkreuz mehr gibt.) Und dann sieht er, wie er, auch als Dichter (oder: vor allem als Dichter?) selbst verschwindet aus der Welt; und er sieht die Rettung eben darin, daß er das tagsüber Geschriebene auslöscht in der Nacht und so aufbewahrt, weil es als Ausgelöschtes ja nicht mehr ausgelöscht werden kann. (Und einmal sagt er zu Rut, der Tochter seiner Zugehfrau Notburga T.: „Wenn ich dein nachbar bin, Rut, erzähle mich! Erzähle mich weiter, daß ich einmal gewesen bin, daß ich nicht in der welt verloren geh wie all die gewesenen, die unter der erde sind und sich sehnen, sich unendlich sehnen, doch gewesen zu sein, doch aufgehoben zu sein in der erinnerung! Schau, wie sie all die menschen unter die erde treten, wie sie sie unter die erde stampfen, in die vergessenheit hinein, Rut, Rut, in die verschwundenheit!“)

Und was fasziniert dich an Fußnoten?

An Fußnoten als Fußnoten fasziniert mich nichts; aber sie sind notwendig. Notwendig als Dazwischengesagtes; als ein Erzählen neben dem Erzählten; als Kommentar des Erzählten: von der anderen Straßenseite her, von einem Fenster aus; als eine andere Version des Erzählten; als eine Reflexion des Erzählten; als Zwischenruf, als laute, als leise Einmischung; als ein Erzählen unterderhand; als eine Unterbrechung des Erzählten; als … (Stellen Sie, lieber Leser, sich vor, Sie gehen durch eine Stadt und schauen nicht nach rechts und nach links; als hätten Sie Scheuklappen, gehen Sie durch die Stadt und schauen nicht nach oben und schauen sich nicht um; und Sie lassen sich nicht aufhalten und in ein Gespräch verwickeln, Sie halten nie inne, was auch immer Sie hören, was auch immer Sie aus den Augenwinkeln sehen. Stellen Sie sich dies vor! Oder stellen Sie sich vor, es interessiert Sie nicht, daß dieser erzählt, was jener erzählt habe; jener andere aber, sagt ein anderer, habe etwas ganz anderes erzählt; all dieses vielfach Erzählte – Stellen Sie sich dies vor! – interessiert Sie nicht. / Wenn Sie sich das vorstellen, dann stellen Sie sich das Gegenteil dessen vor, was mich interessiert: das Innehalten, das Umschaun, das Umschaun noch einmal: die Gleichzeitigkeit der Wirklichkeiten – und all die Möglichkeiten, und all die erfassten, all die verpassten Möglichkeiten. / Oder auch der Tratsch zum Beispiel, dieses vielfache Spiegeln der Wirklichkeit hinter vorgehaltener Hand – oder eben, in meinen Geschichten, unterm Strich.)

Warum diese konsequente Kleinschreibung?

Warum nicht? Nur weil die sogenannten Rechtschreibreformer auch im 21. Jahrhundert noch nicht den Schritt gewagt haben, der im Barock aufgekommenen Hervorhebung der sogenannten Hauptwörter durch Großschreibung zu entsagen? Die Engländer und Schweden etwa beendeten diese barocke Untugend, diesen barocken Größenwahn noch vor dem Ende des Barock. Ich schreibe also in der gemäßigten Kleinschreibung wie fast alle innerhalb des lateinischen Schriftsystems; nur noch im Lëtzebuergeschen (neben dem Deutschen) schreibt man Nomen groß. Dazu Jacob Grimm in der Einleitung seiner Deutschen Grammatik von 1819: „Es ist nicht zu spät, und leicht genug, einer so peinlichen und unnützen schreibweise zu entsagen, welche sich von uns lediglich Dänen und Litthauer haben aufbürden lassen […] wer große buchstaben für den anlaut der substantive [schreibt], schreibt pedantisch.“ (Hier, ausnahmsweise, für dieses Interview, schreibe ich „pedantisch“ – und möchte hinfort nie wieder dazu gefragt werden. Jedoch weiß ich: Das ist ein frommer Wunsch.)

Welches Publikum wünschst du dir für deine Bücher? Oder denkst du darüber gar nicht nach?

Ich schreibe, was ich zu schreiben habe; ich schreibe es, wie es zu schreiben ist. Über eine irgendwie geartete Beschaffenheit des Lesers meiner Texte habe ich noch nie nachgedacht. Viele Leser, selbstverständlich, wünscht einer sich, der seine Texte von seinem Schreibtisch in die Welt hinaus schickt.

Hast du Lieblingsautoren, Schriftsteller, die dich beeinflussen? Was inspiriert dich?

Ich habe viel gelesen, ich habe viele Bücher um mich; und so haben mich viele Schriftsteller beeinflusst; mehr wahrscheinlich, als ich weiß. Am Anfang Georg Trakl und Rainer Maria Rilke und Paul Celan; und dann viele andere. Und einmal ist einer wichtiger als die anderen und so fort; und so nenne ich hier keine Lieblingsschriftsteller – außer den einen, der meinem Sehen, der meinem Schreiben schon früh eine Richtung gegeben hat, von der aus –: Rolf Dieter Brinkmann, totgefahren am 23. April 1975 in London, vor dem Pub The Shakespeare. (Auf ihn hingewiesen hat mich in einer Innsbrucker Vorlesung am Ende der 70er Jahre Zoran Konstantinovič, Professor dort der Vergleichenden Literaturwissenschaft; dafür danke ich ihm schon lang, hier mache ich den Dank öffentlich.)

Was liest du gerade?

Gleichzeitig lese ich gerade (neben Zeitungen, Zeitschriften und anderem mehr): „Berichte aus der Abwurfzone. Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939 bis 1945“, hg. von Oliver Lubrich; und dann: Robert Walser: „Geschichten“ (eine 39 Seiten dünne, gerade in Bamberg antiquarisch erworbene schwarze Kostbarkeit aus dem Jahre 1974); und dann: Lukas Bärfuss: „Stil und Moral. Essays“; und dann: Ludwig Harig: „Meine Siebensachen. Ein Leben mit den Wörtern“; und dann: Ror Wolf: „Die Gedichte“; und dann noch – und nicht zuletzt: noch einmal von W. G. Sebald: „Schwindel. Gefühle“.

Was kommt Neues? Gibt es schon etwas Spruchreifes?

Aus schaut’s, als wäre der Sültzrather noch nicht aus; als wäre da noch zu erzählen aus seiner Kindheit und aus der Zeit vor seiner Geburt, in welcher, 1929, sein einziger Bruder tot in die Welt geboren wurde nach einer Maßnahme des faschistischen Machtapparats in Aibeln und Umgebung.

Danke, Josef, für dieses wirklich lesenswerte Interview!

Foto: (1) Andrea Lüpke, (2) franzmagazine

Print

Like + Share

Comments

Current day month ye@r *

Discussion+

There are no comments for this article.