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January 19, 2017

E TE TSE #03
Studeo ergo sum

Michael Brugger
Warum man es sich zweimal überlegen sollte, bevor man sich für ein Gymnasium entscheidet.

Donnerstagabend. Morgen Geschichtetest. Das ganze erste Semester. Der WhatsApp-Klassenchat ist voll mit Russischer Revolution, Erstem Weltkrieg, der Weimarer Republik, dazu Angst und Panikschieberei. An manchen Tagen können da schnell mal um die dreihundert Nachrichten zusammenkommen. Ich schalte an Abenden vor irgendwelchen Tests prinzipiell immer mein Handy aus. Externe Panikmache brauch ich nicht – das spar ich mir lieber, kann ich auch selbst.
Anstatt, wie alle anderen aus meiner Klasse, bis drei Uhr morgens am Schreibtisch zu sitzen und auf meine Unterlagen zu heulen, beim verzweifelten Versuch, das letzte verbliebene Bisschen Aufmerksamkeit auf den Lernstoff zu lenken, liege ich im Bett und einvernehme mir genüsslich die dritte und vierte Folge von „The Night Manager“ (sehr sehenswert, mit Tom Hiddleston und Hugh Laurie), während mein armes, aber vorbildlich verantwortungsvolles Unterbewusstsein sich darum sorgt, ob ich auf diese Weise die Matura schaffe – vielleicht sollte ich mehr auf mein Unterbewusstsein hören.

Ich lasse meine Gedanken schweifen. Zeitreisen. Könnte ich in der Zeit zurückreisen, würde ich ins Jahr 2012 reisen, meinem früheren Ich sagen „Renn!“, und zwar zu dem Zeitpunkt, an dem dieser naive Bastard das erste Mal einen Fuß über die Schwelle der Schule gesetzt hat, die ihn für die nächsten fünf Jahre als Sklaven halten würde. Ich hätte es eigentlich sofort wissen müssen, am Tag der offenen Tür, als ich das Schulgebäude zum ersten Mal betreten habe.

In der Schulbibliothek stellten einige Fachlehrer ihre Materien vor: ein Lateinlehrer, der – wüsste man es nicht besser – der beste Freund von Olivia Jones sein könnte, eine Französischlehrerin, die auf diesen Text sicherlich mit einem empörten „Oh là là“ und einem feuerroten Gesicht reagieren würde, eine hyperaktive Geschichtelehrerin, und ein Deutschlehrer mit einer derart stoischen Ruhe, die einen die bloße Existenz eines Pulses bei diesem Mann infrage stellen ließ.

Das war Warnung Nummer eins.

Klassenbesichtigung. Ich glaube, es war der Klassenraum der damaligen 5CS. Schon als uns die Tür geöffnet wurde, hat mir der beißende Gestank, zu gleichen Teilen aus Kaffee, Nikotin und Angstschweiß die Augenbrauen vom Gesicht gesengt. Blutunterlaufene Augen, leere Gesichter, Sabber tropfte von den teilnahmslosen Mündern auf den Tisch und benetzte die kaum vorhandenen Mitschriften.

Rückblickend betrachtet, war das Warnung Nummer zwei.

Und jetzt bin ich zu dem geworden, was mich eigentlich davor hätte bewahren sollen. Blutunterlaufene Augen, leeres Gesicht, vollgesabberte Schulbücher. Ich stinke nach Kaffee und Angstschweiß. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er ein Reisekoffer, in den man noch den letzten Schlüpfer ums Verrecken hineinpacken muss, er aber nicht zugeht – egal, wie fest man ihn zudrückt oder wie viele Leute sich draufsetzen.
Die Motivation entspricht dem Quotienten einer Division deren Dividend und Divisor beide gleich Null sind. Sie ist nicht nur inexistent, sie ist unmöglich, die Gesetze der Natur und der Arithmetik verbieten sie. Die ernüchternde Erkenntnis: Entsprächen Motivation und Energie eines Drittklässlers jener eines Maturanten, wäre die Schulabbrecherquote deutlich höher.

Vielleicht würde die Aussicht auf ein spannendes und abwechslungsreiches Berufsleben mein Durchhaltevermögen stärken, doch auch in diese Suppe musste man mir spucken, denn wer nicht noch mindestens weitere drei Jahre des emsigen Stussstudierens oder der fakultativen Neuronenvergewaltigung eingeplant hat, kann eine erfolgreiche Berufslaufbahn direkt nach dem Gymnasium eigentlich vergessen. Und dann fragt man sich, warum die Jugend von heute so nichtsnutzig ist. SS würde mein Mathematiklehrer dazu sagen – selbst schuld.

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