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October 21, 2015

“Menschen haben keine Wurzeln, sondern Beine.” Nicolò Degiorgis über unsere Welt

Anna Luther

Er hat seinen eigenen Verlag gegründet, unterrichtet in Gefängnis und Universität Fotografie, wird für seine Serien und Fotos konstant mit Preisen bedacht und spricht neben Deutsch, Italienisch und Englisch auch Chinesisch. Nicolò Degiorigis war schon immer auf Achse. Als Kind zeltete er oft mit seinen Eltern in verschiedenen europäischen Ländern und auch heute hält er es an einem Ort nicht lange aus: Jeder Fleck dieser Welt, auch das kleinste Dorf, hat seinen eigenen Alltag und eine besondere Atmosphäre. Als Fotograf und Reisender fischt der junge Mann nach Bildern wie im Meer; wie sie schmecken, bleibt Sache der Betrachtung. Und eben ist in seinem Verlag Rorhof sein neues Buch “Peak” erschienen. Durch das Gespräch mit dem tiefsinnigen Fotografen aus Bozen erscheint mir mein Denken “westlich” und die Welt bunter.

[Für das Jahr 2017 hat das Museion in Bozen (nach Rein Wolfs, Carol Yinghua Lu mit Liu Ding, Pierre Bal-Blanc und Francesco Vezzoli in den vergangenen Jahren) Nicolò Degiorgis als Gastkurator geladen: Er wird am 17.9.2017 eine Ausstellung zum Thema Heimat und Vaterland eröffnen; dieser Hauptausstellung gehen fünf Mikroausstellungen über fünf unveröffentlichte Kunstbücher inklusive einiger Satelliten-Events in der Region voran. – A. d. R. vom 21.10.2016]

Nicolò Degiorgis, wieso wolltest du Fotograf werden?

Fotografie ist eine visuelle Sprache und ich bin ein sehr visueller Mensch. Ich war an so vielen, unterschiedlichen Sachen interessiert, die sehr viel mit Kunst, Grafik und Architektur zu tun haben. Ich langweile mich sehr schnell und bin drei, vier Tage in der Woche unterwegs.  

Was machst du, wenn du zu einem unbekannten Ort kommst? 

Ich schlendere durch die Stadt, esse irgendwo etwas, besichtige gerne öfters für eine Stunde dieselben Museen oder gehe mit Bekanntschaften aus. Mit ihnen den Alltag leben. In Paris, New York, Rom, Mailand leben die Leute auch immer auch anders. Nicolo Degiorgis RorhofHast du keine Angst, dass irgendwann eine multikulturelle Kultur entsteht, die überhaupt nicht mehr authentisch ist? 

Nein, eigentlich habe ich die nicht. Ich liebe es, auch hier in Bozen, einen Abend mit Muslimen Ramadan zu machen und am Tag danach bin ich vielleicht in irgend einem Buschenschank in Südtirol – das ist wie reisen. Ich habe keine Angst, dass die Familie des Buschenschanks ihre Kultur verliert, weil sie anfängt, Kuskus zu kochen. In Großstädten beispielsweise entstehen letzthin vermehrt Restaurants, die unterschiedliche Küche anbieten. – Man verliert nicht, sondern hat eigentlich nur zu gewinnen. Und es hängt von der Einstellung ab, wenn man will, dass alles so bleibt, wie immer, dann hat man nur zu verlieren. Menschen haben keine Wurzeln, sondern Beine – sie bewegen sich. Sie haben Vergangenheit, sie sollen sich ihrer bewusst sein, aber nicht in ihr leben. Wir sind eine Welt, ich will niemandem verbieten herzukommen, genauso wenig wie ich möchte, dass mir verboten wird, irgendwo anders hinzugehen. 
Die moderne Kultur ist sehr breit und westlich geprägt. Globalisierung existiert, aber es existieren auch extreme Gegensätze; zum Beispiel das, was wir in der muslimischen Welt erleben: Die muslimische Welt war vor 40 oder 50 Jahren viel toleranter als heute. Diese Entwicklung ist eine Reaktion auf eine sehr westliche, offene Welt, die bestimmte Traditionen verliert. Deshalb gibt es Länder wie Saudi Arabien, in denen es in die komplett entgegengesetzte Richtung geht und es entstehen Diskrepanzen. 
Ich finde es schön, dass es unterschiedliche Werte gibt, und ich will die Werte von niemandem verdrängen, gleichzeitig aber auch nicht, dass mir jemand meine Werte wegnimmt. Es geht um gegenseitigen Respekt. Und in dem Bezug ist Europa momentan der einzige Ort weltweit, der am tolerantesten damit umgehen kann. 

Aber verliert man nicht durch das Chinesisch-Lernen als italienisches Kind seine Identität? 

SüdtirolerInnen sind sehr sprachgebunden – leider, finde ich. In Südtirol reden Deutschsprachige zu 99 Prozent ihrer Zeit in Dialekt, viel wird mit Sprache assoziiert. Auch ich bin so aufgewachsen, es war immer extrem wichtig; die Lehrer in der Schule haben mich sprachlich sehr eingeschüchtert; bis ich zum Punkt kam, wo ich nicht mehr daran dachte, was ich jetzt schreibe, sondern wie ich es schreiben soll. Das ist falsch! Deswegen bin ich später auch auf Fotografie umgestiegen, dort habe ich keine Hemmungen. Jetzt schreibe ich hauptsächlich auf Englisch. Identität hat mit Sprache viel zu tun, aber nicht nur. Und sie wird immer weniger mit Sprache zu tun haben. 
Unsere Gesellschaft wird immer komplexer und unterschiedlicher. Die einzige Möglichkeit, damit wir weiterhin friedlich miteinander umgehen, ist Toleranz zu haben und zu versuchen zu verstehen. Natürlich kann man manche Sachen nicht verstehen. Aber durch die Auseinandersetzung merkt man, dass man oft gar keine genaue Meinung dazu hat. Als ich anfing mit MuslimInnen abzuhängen, hatte ich eine komplett andere Meinung über sie als heute beispielsweise. Ich kann jedoch nicht sagen, ob etwas richtig oder falsch ist, das will ich auch gar nicht. – Wieso soll ich meine Werte den Werten anderer vorziehen? 
Es ist wichtig, zwischen Kulturen Brücken zu bauen, damit keine Reibung entsteht. Wenn das passiert, wird jede Kultur weiter ihre Werte bewahren und sich auch ändern. Kulturen sind nicht statisch. – Südtirol ist ein perfektes Beispiel dafür, wie viel passieren und wem man alles angehören kann. Sonst wird die Situation klaustrophobisch, bekommt keine Luft, erstickt. Und eine Kultur kann ersticken, konservativ werden. – Durch Reisen wird verständlich, wie schön Unterschiede sind. Über Unterschiede entsteht Reichtum, sonst wird es irgendwann langweilig.Hidden Islam Nicolo DegiorgisIst Langeweile nicht auch wichtig, kann dadurch nicht erst kulturelle Vielfalt entstehen? 

Ja, bei Langeweile verändert man etwas. Aber ich glaube, unser Problem zur Zeit ist, dass wir uns nicht genug langweiligen, ein wenig zu hektisch sind. In unserer Zeit braucht es viel Konzentration, man bekommt so viele Inputs. Es braucht aber Ruhe und Langeweile, um etwas Neues zu schaffen. Unser Problem ist, dass wir nicht verstehen, dass Langeweile auch positive Seiten mit sich bringt.  

Welchen Blick gibt Fotografie?

Fotografie ist eine flüssige, sehr intuitive Sprache. Wir leben in einer Zeit, in der sich Kulturen überlagern, alles nicht wirklich in Schubladen geschoben werden kann, es eine große Einwanderung gibt, Menschen sich bewegen, mehrere Sprache sprechen. Fotografie überschreitet sprachliche und oft auch kulturelle Grenzen. Fotobücher, meine hauptsächliche Arbeit, verkaufe ich durchgehend auf Messen und Festivals. Sie werden von allen möglichen Menschen gekauft, der Verkauf ist nicht auf Italien oder Österreich limitiert, sondern alle können diese Bücher “lesen”. – Ob jeder sie gleich liest, ist eine andere Frage. Aber das ist auch das Schöne von Fotografie: Man hält etwas fest. Du wirst aber nie wissen, was der andere in das Bild hinein interpretieren. 
Fotografie ist intuitiver als Sprache in Wort und Schrift, mehr Leute können damit umgehen. Mittlerweile fotografieren auch mehr Leute. Jugendliche verschicken und erzählen mit Fotos in Social Networks über ihr Leben. Es gibt viele visuelle Sprachen; die Fotografie hat aber die Eigenart, im Vergleich zu anderen, wie beispielsweise Straßenschilder, extrem schnell verbreitet zu werden.

Was meinst du mit “intuitiv”?

Intuitiv heißt, dass es schnell und direkt geht und man dafür kein Hintergrundwissen braucht. Es ist ein unbewusster Prozess, der kein Studium eines Grammatikbuches verlangt. Ich selbst habe Fotografie nicht studiert, sondern habe anhand Fotografien von anderen gelernt.Nicolo DegiorgisApropos lernen und lehren: Wie ist es im Gefängnis Bozen Fotografie zu unterrichten? 

Es ist sehr kompliziert und sehr interessant. In meinem Kurs sind die meisten Studenten Einwanderer und ich finde es interessant zu erfahren, woher sie kommen, was sie tun; und in einem Ort Fotografie zu unterrichten, wo es eigentlich nicht möglich ist: Dort ist alles geschlossen und es gibt nicht viel zu fotografieren, deshalb ist es auch gleichzeitig schwierig. Es ist sehr klein und oft kommen meine Studenten auch untereinander nicht sehr gut aus. Der Kurs ist absolut freiwillig, die meisten schreiben sich am Anfang des Semesters ein, oft kommen auch welche während des Semesters hinzu oder verlassen den Kurs – abhängig davon, wie lange sie im Gefängnis bleiben müssen.

Zu deinem Verlag: Erzähl uns bitte mehr von Rorhof? 

Rorhof wurde 2014 von einer Freundin und mir gegründet. Der Name kommt vom 500 Jahre alten Hof – unserem Verlagssitz. Aus familiären Gründen zog diese Freundin dann aus Bozen weg und nun habe ich zwei andere Mitarbeiterinnen für den Vertrieb und die Verwaltung. Ich führe den Verlag, mache hauptsächlich meine Bücher und die, die ich als Kurator betreue – das ist an sich ein Kunstprojekt: Die Bücher müssen mit meiner Auffassung übereinstimmen, der Fokus liegt nicht auf dem Vertrieb, es sollen vielmehr KünstlerInnenbücher sein. Die Bücher, die wir machen, sind Buchkunst und es geht darum, wie man sie bindet, druckt. 
Jedes Buch ist und funktioniert anders, natürlich muss das Visuelle auch zum Inhalt passen. Das Design mache ich und die Bücher werden in Bozen gedruckt. 
Obwohl es eine Krise gibt, passiert in manchen Nischensektoren der Buchwelt viel. Viele Bücher werden in China oder der Türkei gedruckt, weil es dort billiger ist, was natürlich stimmt und bestimmte Vorteile mit sich bringt. Ich jedoch versuche so viel wie möglich hier zu produzieren, wir arbeiten hauptsächlich mit longo zusammen, einer Druckerei in der Industriezone Bozen. Und ein Teil der Produktion wird auch oft bei uns im Studio von Hand gemacht.Peak - Nicolo Degiorgis 02Eben ist dein neues Buch “Peak” im Rorhof Verlag erschienen…

Genau, das Fotobuch “Peak“ hat wie das Fotobuch “Hidden Islam” meine Heimat zum Thema, in diesem Fall die Dolomiten im Cadore. Es ist gleichzeitig aber auch eine Ausstellung, da jede Seite herausgenommen und als Bild aufgehängt werden kann. Es ist sozusagen ein Stapel von Bergen. Das Buch beginnt nachts im Sommer und, wenn man weiter blättert, wird es langsam Tag und es beginnt zu schneien. In der Mitte des Buches, die selber einen Berggipfel darstellt, wird es komplett weiß. Dann beginnt sich der Kreis wieder zu schließen, es schmilzt und wird wieder schwarz. Im Buch geht es um die Frage, was Höhepunkte im Leben sind. Jede Doppelseite in diesem Buch besteht aus zwei unterschiedlichen Bergen. Ab und zu sind es tatsächliche Berge, andere Male Steine, Sandhaufen oder Kies. Dennoch ist es immer dasselbe Material, nämlich Gestein der Dolomiten. Ich stellte mir die Frage – auf das Leben übertragen, was Höhepunkte sind, und bin zum Schluss gekommen, dass es zum Glück nicht nur einen Höhepunkt im Leben gibt, sondern mehrere – höhere und niederere, es ist ein Auf und Ab. 

Kurz zum vorher erwähnten und deinem meist verkauften Buch “Hidden Islam” – warum dieser Titel ? 

Es geht um Einwanderung. Fotografiert sind muslimische Gebetsräume in Norditalien, Trentino, Südtirol, Veneto und Friuli Venezia Giulia. In Italien gibt es nämlich kein Gesetz, das erlaubt, Moscheen zu bauen. Die muslimische Gemeinschaft gründet muslimische Kulturvereine, hält sich bei den Treffen in Räumen auf, wo sie auch beten. Die Art dieser Gebetsräume ist sehr unterschiedlich und hängt auch von der Größe der Gemeinschaft ab: es sind Fabriksgebäude, Stadien oder auch Geschäfte. Ich habe in Nordostitalien alle Orte aufgesucht, die ich gefunden habe, und für das Buch auch eine Karte mit all den Orten erstellt. Das Buch ist in acht verschiedene Kapitel je nach Gebäudeart unterteilt: Fabriksgebäude, Supermarkets, Shops und weitere andere, die zuerst in Schwarz-Weiß von Außen zu sehen sind, dann kann die Seite aufgeklappt und in Farbe in das Innere der Gebäude gesehen werden. – Ich habe also zwei verschiedene, fotografische Sprachen verwendet: eine sehr rigide in Schwarz-Weiß und jedes Gebäude von Außen auf dieselbe Art fotografiert; und innen entfaltet sich eine ganze Welt in Farbe mit Menschen.
Über fünf Jahre hat meine Recherche online, in Zeitungen, vor Ort und über Gespräche gedauert. Anfangs war es sehr kompliziert, weil mich die Leute nicht kannten. Mit der Zeit habe ich Kontakte bekommen und meine Idee für das Projekt konkretisierte sich. Oft passierte es aber auch, dass ich nicht fotografieren durfte; was natürlich ganz normal ist – man kann ja auch nicht in jeder Kirche oder bei einem Begräbnis fotografieren.  

Du bist viel unterwegs, wärst du auch für eine Fotoserie auf dem Mars zu haben? 

Logisch, auf dem Mars gerne. Abenteuer gefallen mir ganz gut. …es gibt bereits ein Künstlerbuch mit Fotos vom Mars, die sind jedoch von der NASA… 

Nicolò Degiorgis wurde am 11. Mai 1985 in Bozen geboren und wuchs zweisprachig auf. Nachdem er bis zur Oberschule deutschen Schulunterricht hatte, besuchte er in Venedig die italienische Universität Ca` Foscari um Chinesisch zu studieren. Bereits in der Oberschulzeit fing Degiorgis an alleine zu reisen und finanzierte sich durch verschiedene Jobs wie im Call Center oder als Kellner. Nach dem ersten Jahr in Venedig begann er auch nach China zu reisen. Nach seinem Studium machte er ein Praktikum bei einem Handelsunternehmen für Export in Hong Kong. Während seines Praktikums beschloss er sich von nun an der Fotografie zu widmen. In Beijing studierte er an der Capital Normal University weiter. Zurück in Europa arbeitet er nun schon seit über sechs Jahren als Fotograf halbjährig bei einer Fotoagentur in Paris, für internationale Zeitungen als auch bei Kunstprojekten, wie momentan bei seinem eigenen, nämlich dem Rorhof Verlag. Degiorgis unterrichtet Fotografie an der Fakultät Design und Kunst der Freien Universität Bozen und im Gefängnis Bozen. Für sein 2014 erschienenes Fotobuch “Hidden Islam” erhielt er drei Preise, unter anderem die Auszeichnung für das “Fotobuch des Jahres” des wichtigsten Fotofestivals Europas, “Le Recontres d’Arles”. 2015 ist sein neues Buch “Peak” erschienen.

Alle Fotos, außer vor dem Bücherregal: Nicolò Degiorgis

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