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November 20, 2014

Option und Erinnerung: Historikerin Eva Pfanzelter über die Südtiroler Migration

Kunigunde Weissenegger

In Anbetracht des bevorstehenden 75-Jahr-Jubiläums des Optionsabkommens von 1939 am 23. Juni 2014 ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen über die bisherige Rezeption der Südtiroler Option im Sinne einer wohl einzigartigen Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es geht zentral um die Frage, wie dieses Ereignis nachhaltig die Mentalität in Nord-/Ost- und Südtirol, in Italien und Österreich prägte.” – steht auf der Website einleitend in der Beschreibung des Forschungsprojektes Nr. 15268 bzw. “Die Südtiroler Option 1939: Rezeption, museale Darstellung, Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte”. Geleitet wird das Projekt von Eva Pfanzelter, Assistenzprofessorin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck

Im Rahmen des Forschungsprojektes der gebürtigen Kastelruther Historikerin sind 2014 ein Buch im Raetia Verlag und ein Themenheft in der Zeitschrift Geschichte und Region/Storia e regione publiziert, eine Tagung veranstaltet, von den VBB ein Theaterstück produziert worden sowie eine Website online gegangen.

Ein Gespräch mit der Geschichtswissenschaftlerin und Buchautorin Eva Pfanzelter über ihre Forschungen, das kollektive Gedächtnis an die Option, über Stereotypisierung und Relativierung bedingt durch Erzählperspektiven oder Altersmilde, über die Frage, warum es in Südtirol oder Tirol keine physischen Erinnerungsorte an die Option gibt, und ihre ganz persönlichen Eindrücke von den ZeitzeugInnen.

Eva Pfanzelter, worum geht es im Projekt “75 Jahre Option”? Wie, wann und warum ist das Projekt gestartet?

Im Projekt beschäftigen wir uns mit der Erinnerung an die Südtiroler Umsiedlung von 1939. Wir haben also zunächst einmal versucht, alles zu sammeln, was an Belletristik und wissenschaftlicher Literatur, Filmen, Dokumentationen, Theaterstücken, Ausstellungen und Kunstprojekten in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. Parallel dazu sind wir in Süd- und Nordtirol herumgefahren und haben noch einmal Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gemacht. 
Die Idee für das Projekt geht eigentlich auf meine Kollegin Paulina Moroder vom Museum Gherdeina zurück, die vor ein paar Jahren die letzten Erlebniszeitzeuginnen und -zeitzeugen in Gröden interviewen wollte. Wir reichten danach einen großen Interreg-Projektantrag ein, der leider wegen eines Formfehlers scheiterte. Ich habe danach den ursprünglichen Antrag in abgespeckter Form beim Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank eingereicht und genehmigt bekommen. Mir war klar, dass im Zuge der “Jubelfeiern”, wie es eben solche Gedenkjahre mit sich bringen, die Option wohl noch einmal ein gesellschaftliches Thema werden würde und es war mir daher schon ein Anliegen, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Ereignisse von damals zum Sprechen zu bringen. Und sicherlich war mir auch die Vermittlung im Unterricht ein Anliegen. Ich habe vor allem auch im Unterricht an der Uni in Innsbruck gemerkt, dass das Wissen um die regionalhistorischen Ereignisse immer weniger wird, und zu einem guten Teil aus Banalisierungen und Simplifizierungen besteht. ZeitzeugInnen sind da, so denke ich jedenfalls, immer eine gute Möglichkeit, einen emotionalen Bezug herzustellen.

Es werden zum Thema zwei Publikationen erscheinen. Welche?

Bei den Publikationen handelt es sich einmal um ein populärwissenschaftliches Buch “Option und Gedächtnis“, das sozusagen als Lesebuch zur Option gedacht ist. Im Herbst erscheint außerdem ein Themenheft zu “Option und Erinnerung/La memoria delle opzioni” in der Zeitschrift Geschichte und Region/Storia e regione, in der einige der wissenschaftlichen Ergebnisse aus unserem Projekt präsentiert werden. Anfang Oktober 2014 haben wir in Bozen auch eine Tagung zu “Option und Erinnerung” veranstaltet. 

Zu “Option und Gedächtnis”, das im Raetia Verlag erschienen ist: Darin geht es nicht um Daten, Fakten und Zahlen. Worum geht es dann?  

Eigentlich ist das Buch als Lesebuch zur Option und zur Erinnerung an die Option zu verstehen. Es geht hier also nicht um die Ereignisgeschichte, sondern darum, wie und woran sich die Menschen im Land – und auch die Ausgewanderten – erinnern und wie sie uns etwas erzählen. Ich möchte also aufzeigen, was heute im kollektiven Gedächtnis des deutschsprachigen Südtirols über die Option gewusst wird und wie es dann im Familiengedächtnis vererbt wird. Oder anders gesagt, wie und was erzählt die Erlebnisgeneration den Nachkommen über die Ereignisse von 1939.Zeitzeugin Berta Stimpfl – Option – Eva Pfanzelter – Raetia VerlagZeitzeugin Berta Stimpfl, geb. Tappeiner, während eines Interviews zum vorliegenden Buchprojekt, Institut für Zeitgeschichte Innsbruck/Vereinigte Bühnen Bozen

Der Untertitel lautet “Erinnerungsorte der Südtiroler Umsiedlung 1930″. Was ist mit Erinnerungsorten gemeint? Wie hängt dies mit dem Ausdruck “Kristallisationspunkte des kollektiven Gedächtnisses” zusammen und was ist damit gemeint?  

“Erinnerungsorte” ist ein vom französischen Kulturwissenschaftler Pierre Nora geprägter Fachausdruck, der sich trotz seiner Widersprüchlichkeit in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt hat, wobei es eigentlich, wenn man präzise sein will, eben um die genannten “Kristallisationspunkte des kollektiven Gedächtnisses” geht. Das versteht natürlich kein Mensch. Um es vereinfacht zu erklären, haben wir versucht, aus den Interviews mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen jene Themen, Orte, Menschen, Daten und Personen – eben vereinfacht gesagt “Erinnerungsorte” – herauszusuchen, von denen die Interviewten bis heute sprechen. Aus den vielen Interviews, die wir gemacht haben, ergeben sich hier ganz viele unterschiedliche Themen, aber auch ganz viele Übereinstimmungen und sie zusammen machen das kollektive Gedächtnis an die Option aus.

Wie ist das Buch aufgebaut? Was ist das Konzept des Buches? Was kommt auf die LeserInnen zu?   

Für das Buch habe ich gemeinsam mit meinen Teamkolleginnnen und –kollegen aus den vielen, vielen Erinnerungsorten 25 ausgewählt. Diese werden in kurzen Einzelkapiteln ausführlicher behandelt, das heißt, es werden die einzelnen Erinnerungsorte kurz beschrieben und danach kommen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen durch Transkriptionen ihrer Interviews zu Wort. Parallel dazu haben ich auch mit Hilfe des Raetia Verlages versucht, Bilder für diese Erinnerungsorte damals und heute zu finden und so auch die sichtbare Veränderung zu dokumentieren – was nicht heißt, dass die Bilder unkommentiert für sich sprechen, aber ich hoffe, dass sie gemeinsam mit dem Text zum Nachdenken anregen.  

Warum gibt es in Südtirol oder Tirol keine physischen Erinnerungsorte (Denkmal oder Museum) an die Option bzw. wie könnte etwas derartiges aussehen?

Warum das so ist, ist tatsächlich eine gute Frage. Die Option nimmt in der kollektiven Erinnerung des deutschsprachigen Südtirol eine zentrale Stellung ein und doch wird an sie nicht an steinernen Orten erinnert. Meines Erachtens hat das nach wie vor damit zu tun, dass mit einer öffentlichen Sichtbarmachung auch eine permanente Auseinandersetzung mit der eigenen (auch braunen) Vergangenheit einherginge und dadurch die nach wie vor lebendige Opferthese wohl nicht mehr aufrecht zu erhalten wäre.
Dabei bin ich mir gar nicht so sicher, ob es so ein Denkmal oder ein Museum überhaupt geben soll, vor allem, weil ich der Meinung bin, dass solche in Stein gemeißelten Relikte oder Marmornen Hinweistafeln immer auch dazu beitragen, Erinnerung mit einer bestimmten Interpretation zu zementieren. Aber die Erinnerung ist immer eine Interpretation der Vergangenheit durch die Gegenwart und verändert sich dadurch mit jeder Generation und durch jedes Medium. Das soll nicht heißen, dass es nicht spannende – und sich eben den wandelnden Interpretationen von Generationen anpassende – Projekte zur Sichtbarmachung und “Entschleierung” solcher Orte gibt. Ich denke hier jetzt z. B. konkret an Memory Loops in München oder das Stolpersteine-Projekt oder auch an die Geocaching-Führungen durch die Holocaust-Gedenkstätten in Deutschland und Polen. 
Genau aus diesem Grund haben wir auch zusammen mit einigen Lehrpersonen und deren Schulklassen in Südtirol angefangen, einige der Erinnerungsorte an die Option zu thematisieren. In diesen Projekten geht es auch darum, zusammen mit den Kunstgeschichte-Professoren über Möglichkeiten einer Realisierung oder eben einer Sichtbarmachung der Erinnerungsorte nachzudenken und vielleicht ein paar Vorschläge zu erarbeiten. Persönlich bin ich der Meinung, dass die Kunst und die online Medien eine wichtige Rolle spielen müssten, wenn man an eine konkrete Umsetzung eines solchen Projektes geht – was allerdings den Rahmen unseres Projektes weit übersteigt.
Aber wenn man so will, einen Erinnerungsort haben wir im Projekt hoffentlich öffentlich sichtbar gemacht: Die Sammlung der Zeitzeuginnen- und Zeitzeugeninterviews im Amt für Film und Medien in Bozen soll dadurch, dass sie öffentlich zugänglich ist, zu einer permanenten Interpretation und Re-Interpretation einladen.

Einige Fragen zur Auslegung der Erinnerungen: Viele der ZeitzeugInnen waren zum Zeitpunkt der Option im Kindes- oder Jugendalter. Inwiefern ist diese Perspektive interessant?

Wir haben Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Jahrgänge 1911 bis 1962 interviewt. Für die Erlebnisgeneration der Zwischenkriegszeit bedeutet das, dass wir selbstverständlich nicht Augenzeugenberichte über die Umbrüche durch den Machtwechsel in den 1920er Jahren oder die Optionsentscheidungen der Eltern erhalten. Aber, und das ist das Spannende an der Kinder- und Jugendperspektive, wir erhalten viele Einblicke in das doch schon einigermaßen geregelte Zusammenleben (oder parallel Nebeneinander-Herleben) der Ethnien in den 1930er Jahren und besonders in die Lebenswelt während der Kriegszeit. Die anekdotenhaften Erzählungen der damals 14-, 16- und 18-jährigen zeigen eindrücklich, wie erwachsen Menschen in Auswanderungs- und Kriegszeiten werden.  

Nun haben viele der befragten Zeitzeuginnen mittlerweile ein hohes Alter erreicht. Inwiefern kann beispielsweise die sogenannte Altersmilde relevant für Relativierungen sein?  

Das spielt sicherlich eine Rolle. Dennoch, denke ich, wäre diese Altersmilde nicht möglich, wenn sie nicht auf eine gesellschaftliche Entsprechung treffen würde, also, wenn die versöhnliche Erzählung nicht gesellschafts- und mehrheitsfähig wäre. Damit will ich sagen, dass die Erinnerung an die Option eine Historisierung erfahren hat, die gesellschaftlich mit einer Versöhnung einherging.  Cover Option und Gedächtnis – Raetia Verlag – Eva PfanzelterWie geht die Publikation mit Relativierungen und Stereotypisierungen um? – Auch unter dem Gesichtspunkt, dass die ZeitzeugInnen Vertrauen geschenkt haben, das nicht missbraucht werden soll.

Ja, sicher, Relativierungen und Stereotypisierungen sind immer ein Thema: Die jüdischen MitbewohnerInnen damals wurden ein “bisschen” verfolgt, politische Andersdenkende kamen ein “bisschen” ins Gefängnis oder KZ, die Nachbarn haben andere ein “bisschen” beschimpft und ausgegrenzt und natürlich ist von den “reichen Juden”, “vergewaltigenden Russen” und “brutalen Partisanen” die Rede. Diese Stereotype finden wir eigentlich in allen Interviewprojekten zu kriegerischen Auseinandersetzungen und Konflikten, darüber ist auch schon viel geschrieben worden. Es ging mir aber in dem Buch nicht darum, mit dem Finger darauf zu zeigen. Dennoch wurden einige Passagen übernommen und mit einem Vermerk versehen, damit die Lesenden hier ein bisschen nachdenken und diese Relativierungen auch erkennen. Zugegeben, alles gibt es im Buch nicht zu lesen, da muss man sich dann schon die Interviews anschauen. Da geht es auch um das Vertrauen, das uns von den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entgegengebracht wurde, eben, dass wir angemessen mit ihren Erzählungen umgehen. 

Inwiefern unterscheiden sich die Erinnerungen von Frauen von jenen der Männer?

Unterschiede gibt es sicher zahlreiche, die nicht allein von den sozialen und familiären Bedingungen geprägt sind. Wenn man es aber kurz auf einen Punkt bringen will, so kann man sagen, dass die männliche Erinnerung eine öffentliche, zum guten Teil militärisch geprägte ist, während es sich bei den Frauen um eine private Lebenswelt handelt, die erinnert wird. Allerdings muss ich hier wohl ergänzen, dass sich das Bild der Rolle der Frauen im Optionsgeschehen auch durch die Interviews neu definiert. Das wird vor allem dann klar, wenn man den Fokus darauf legt, dass die tatsächliche Praxis der Auswanderung – vom Zusammenpacken, dem Vorbereiten der Kinder, der Auswanderung und der Integration in eine neue Heimat – zu einem großen Teil den Frauen oblag, weil die Männer meist relativ rasch nach ihrer Optionsbekundung an die verschiedenen Fronten verschickt wurden. Hier können weitere Untersuchungen noch spannende Ergebnisse liefern.  

Kommt die italienische Seite im Buch auch zu Wort bzw. wird sie angesprochen?

Leider nein. Das ist sicherlich ein großes Manko. Im Rahmen des Projektes hatten wir zwei Duzend Interviews geplant, durch eine Zusammenarbeit mit den Vereinigten Bühnen Bozen für deren Theaterproduktion “Option. Spuren der Erinnerung” sind daraus 70 Interviews geworden. Es war uns daher leider finanziell nicht möglich, die Interviews auf Italienerinnen und Italiener auszuweiten, auch LadinerInnen haben wir letztlich nur zwei aufgenommen. Das ist nach wie vor ein Desiderat an die Forschung, hier nachzubessern. Umso mehr gefällt mir das Interview-Projekt von Carla Giacomozzi vom Stadtarchiv Bozen zu den Semirurali, da es eine parallele Migrationsgeschichte aufzeigt.  

Was hat dich persönlich bei Arbeit am Projekt am meisten beeindruckt?

Mich persönlich hat es tief beeindruckt, wie viele Menschen in Süd- und Nordtirol uns ihre Geschichten auch vor laufender Kamera erzählten, wie bereitwillig sie uns in ihre Häuser einluden und uns genügend Vertrauen entgegenbrachten, ihre Erzählungen nicht zu missbrauchen. Auch, dass uns die Menschen mit einigen wenigen Ausnahmen die Erlaubnis gaben, die Gespräche öffentlich zugänglich zu archivieren und für verschiedenen Publikationen unter Angabe ihrer Namen und Daten, zu nutzen; das fand ich eigentlich schon erstaunlich. Wenn ich mich da an die 1980er Jahre erinnere, meine frühen Studienjahre an der Uni Innsbruck, als eben die Option gerade öffentliches Thema war. Da hat man uns beigebracht, dass Interviews immer anonymisiert werden müssen, um die Persönlichkeitsrechte der Menschen zu wahren. Wenn ich daran zurückdenke, muss ich schon schmunzeln. Ich denke, “unsere” Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hätten sich vor den Kopf gestoßen gefühlt, wenn wir die Gespräche anonymisiert hätten. Das zeigt schon auch, dass sich das Verhältnis zwischen der historischen Zunft und den Ereigniszeuginnen und -zeugen grundsätzlich verändert hat – aber das ist ein anderes Thema.

Foto ganz oben: Eva Pfanzelter (c) Uni Innsbruck

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