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July 18, 2014

Maroc, mon amour #04: Atlas – Die freien Menschen

Petra Götsch
Casablanca, Marrakesch, Rabat, Fés, schon allein die Namen klingen schön, so wie alles schön ist, das man noch nie gesehen hat. Zwei Wochen lang reiste ich im Uhrzeigersinn durch Marokko und erlebte ein Land zwischen Okzident und Orient.

Nachdem Fès zwei Tage lang an meinen Sinnen gezerrt hat, freue ich mich auf die Tagesetappe im Bus. Mehrere 100 Kilometer liegen vor mir, doch bereits in Ifrane wird ein erster Stopp eingelegt. Ich nütze die Zeit, um meine Wasserreserven aufzufüllen und mich hier ein wenig umzusehen – und staune nicht schlecht: Hier sieht es aus, als hätte man St. Moritz direkt nach Marokko gebeamt. Es riecht förmlich nach Geld, die Schaufenster sind gefüllt mit Luxuswaren und links und rechts von mir parken Mercedes und BMW in Reih und Glied. Passenderweise liegt vor den Toren der Kleinstadt gut versteckt die berühmte Privatuniversität Al-Akhawyan, wo der arabische Geldadel seine Sprösslinge ausbilden lässt. Vermutlich ist es hier, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Etagenklo sehen.Marokko – Atlas - Maroc - Petra GoetschEinmal mehr überrascht, setze ich den Weg fort. Ständig verändert sich die Aussicht: Ausgedehnte Zedernwälder wechseln mit unendlich scheinenden Hochebenen, sanften Hügeln und plötzlich wird die Landschaft wieder schroff und abweisend, von Schluchten zerrissen. Bewegt man sich in diesem Gebiet, dem Mittleren und Hohen Atlas, befindet man sich mitten im Land der Berber, den “marokkanischen Ureinwohnern”. Seit jeher lebten sie in den unzugänglichen Gebirgstälern des Atlas, am Rand der Sahara und an den Küsten des Atlantiks. Sie sprachen ihre eigene Sprache, schrieben in eigene Buchstaben und beteten zu eigenen Göttern. Über Jahrhunderte waren die Halbnomaden verschiedenen Einflüssen ausgeliefert, aber erst die arabische Eroberung 700 n. Chr. wurde der Berberkultur beinahe zum Verhängnis. Die Stämme erwiesen ihrer Eigenbezeichnung “Imazighen” – “die freien Menschen” – allerdings alle Ehre: Immer blieben sie widerspenstig, wovon hier im Draa-Tal immer noch die vielen trutzigen Lehmburgen (“Kasbah”) und Wehrdörfer (“Ksour”) zeugen. Doch so sehr sie sich auch wehrten: Die Berbersprache Tamazight wurde zurückgedrängt, die Stämme vom arabisch geprägten Staat unterdrückt, von der alten Religion blieben nur mehr der Aberglaube an Geister und schwarze Magie übrig. Erst König Mohammed VI. leitete einen ersten Wiederbelebungsversuch ein, indem er 2011 die Sprache, Schrift und Geschichte der Berber als essentiellen Teil des marokkanischen Staates im Gesetz verankern ließ. Ob diese Maßnahme ausreichend ist, um die leer geblutete Berberkultur in Marokko zu retten, wird die Zeit zeigen.Marokko – Atlas - Maroc - Petra GoetschNach einem zweitägigen Zwischenstopp in Erfoud und der Saharalandschaft Erg Chebbi nähert sich der Bus rumpelnd dem nächsten landschaftlichen Highlight Marokkos – der Todraschlucht. Eine halbe Stunde habe ich Zeit, mir dieses Spektakel anzusehen. Ich spaziere die schmale Straße hinein ins Tal, links und rechts steigen die Wände 300 Meter gleißend rot in die Höhe. In der Mitte plätschert ein glasklarer, nur knöcheltiefer Fluss. Mir gegenüber hat sich eine Großfamilie niedergelassen, die Männer stehen mit Fleischspießen am Feuer, die Kinder toben und die Frauen schnattern aufgeregt durcheinander. Alle scheinen mit ihrem Schicksal zufrieden und mir fällt ein alter Berberspruch ein: “Glück, das sind die Berge und Kinder”. Marokko – Atlas - Maroc - Petra GoetschNoch von der Schönheit der Todraschlucht beschwingt, mache ich dummerweise einen Stopp im nahegelegenen Dorf Tinejdad. Es hat seine besten Zeiten offensichtlich schon hinter sich. Überall liegen eingestürzte Wände, an jeder Ecke türmt sich Müll und Unrat und selbst im neuen Viertel hängt ein strenger Geruch in der Luft. Ständig versuche ich dem Rinnsal aus undefinierbaren Flüssigkeiten auszuweichen, ohne dabei auf zerschellte Melonen oder Eselsexkremente zu treten. Vielleicht liegt es auch nur an mir und die Leute dort stören sich nicht am Kompostmüll und den toten Katzen überall. Jedenfalls hoffe ich es für sie, denn davon haben sie mehr als genug. Marokko – Atlas - Maroc - Petra GoetschStundenlang ziehen öde Landschaften an mir vorbei, ab und zu ein paar Häuser hingewürfelt und wieder vergessen. Wie lebt man hier? Was erzählen sich die Leute abends, wenn sie zusammen am Tisch sitzen? Was ist, wenn die Tochter nicht mehr in den Hirten verliebt sein möchte? Was dann? – Ich frage nur.Marokko – Atlas - Maroc - Petra GoetschSpätabends erreiche ich Dades, ein kleines Oasendorf. Von den unzähligen Eindrücken der letzten Tage erschöpft, verbringe ich eine unruhige Nacht, bevor es am nächsten Tag nach Marrakesch weitergeht. Frühmorgens stehe ich vor dem Spiegel und während ich darauf warte, dass aus der braunen Brühe, die aus dem Hahn schießt, noch so etwas wie Wasser wird, inspiziere ich die Wanzenstraße auf meinem Schlüsselbein.Marokko – Atlas - Maroc - Petra GoetschIch komme nicht dran vorbei mich zu fragen, was für eine merkwürdige Erfindung der Tourismus eigentlich ist. Man lässt alles Vertraute und Komfortable daheim hinter sich, um dann im Ausland mehr schlecht als recht zu versuchen, diesen Komfort wieder herzustellen. Seufzend tupfe ich mein Gesicht mit dem rostigen Wasser ab und breche ein letztes Mal auf. Aus der Ferne grüßt das kühne Berberdorf Ait Ben-Hadou, ich kämpfe mich über den bedrohlichen Tichka-Pass und während sich die Sonne langsam zurückzieht, sehe ich es in der Ferne rot leuchten – Marrakesch, das Gedicht aus Lehm. 

Nächster Halt: Marrakesch – Schaut auf diese Stadt! 

Alle Fotos: Petra Götsch

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