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February 26, 2013

Das weite Land der Seele. Arthur Schnitzler in Bozen

Christine Kofler

Vor rund 100 Jahren fand die Uraufführung der Tragik-Komödie „Das weite Land“ an neun deutschsprachigen Theatern gleichzeitig statt. Auch wenn der Autor, der als literarisches Pedant von Freud gehandelt wird, sein Stück als Abgesang auf die dekadente Wiener Gesellschaft komponierte, haben die 100 Jahre alten Figuren auch heute noch etwas zu sagen: Es geht um die Gesellschaft als Spiel und Bühne, um das Leichte und das Schwere, um die Irrungen und Wirrungen der Liebe, um Schuld, um Lüge, um Treue – kurzum: Um das Leben.

Es geht um Verstand, Gefühl, Liebe, Schuld, Lüge – kurzum: Um das Leben

Aber der Reihe nach: Der Freund des Fabrikanten Friedrich Hofreiter, der junge Pianist Alexei Korsakow, erschießt sich aus unglücklicher Liebe zu Hofreiters Frau Genia. Hofreiter selbst, ein Schwerenöter, der keine Bettgeschichte auslässt, verzweifelt an dem Gedanken, dass die Standhaftigkeit seiner Frau den jungen Mann zum Selbstmord veranlasste, obwohl Hofreiter selbst seine Frau längst nicht mehr liebt. Ein sinnloser Tod, wie er meint. Als sich die Lage zuhause zuspitzt, bricht Hofreiter mit seinem Freund Dr. Mauer in die Dolomiten auf und beginnt dort eine Affäre mit der jungen Erna, während sich seine Gattin Genia zuhause mit dem jungen Otto Aigner einlässt.
Als das Stück am Wiener Burgtheater Premiere feierte, wurde Schnitzler, so heißt es, vom Publikum gleich 24 Mal auf die Bühne gerufen. Ganz so enthusiastisch war das Publikum in Bozen nicht, doch spätestens nach dem Ersten Akt öffneten sich die Zuschauer der Vorführung. Es wird hin und wieder gelacht, auch wenn – wie es sich für eine Tragik-Komödie gehört – einem (vor allem den möglicherweise anwesenden Schwerenötern im Publikum) das Lachen im Halse stecken bleibt.

Abgründe bei Licht

Nach etwas hölzernen ersten Minuten bringt Friedrich Hofreiter, mit viel machohafter Leichtigkeit von Denis Petkovic gespielt, Schwung auf die Bühne. Überhaupt sind die Dialoge zwischen Petkovic und Heike Kretschmer, die seine Frau Genia gibt, eine wahre Freude und treffen stets den richtigen Ton. Dies ist auch der klugen Inszenierung von Bettina Bruinier geschuldet, die Stück und Bühne so arrangiert, dass Schnitzlers fein gesponnene Dialoge mit ihren vielen Nuancen genügend Raum haben, um zu wirken. Die Atmosphäre ist minimalistisch, hell, klar – Düsternis verbreiten einzig die schweren Gitarrenriffs zwischen den Akten. Dieses klare Bühnenbild macht die Abgründe umso stärker sichtbar; die Figuren taumeln, sie geben vor, zu kommunizieren, versuchen es auch wahrhaft, aber kommen dabei doch niemals über sich selbst hinaus. Bei allen Liebeleien, Romanzen und Ehen, und darin liegt die Tragik der schnitzlerschen Figuren, bleiben sie doch immer einsam.

Heike Kretschmer geht auf in der komplexen Rolle der betrogenen und betrügenden Genia, deren Realitätsverweigerung gegen Ende hin in dem Aufbrechen der Fassade kulminiert. Wunderbar auch Florentin Groll als gebrochener, melancholischer Doktor von Aigner, der tatsächlich einem Dolomitenhotel der 20er-Jahre entsprungen zu sein scheint.

Was früher Dekadenz, ist heute Mainstream

Was Schnitzler noch heute so lesens- und sehenswert macht: Wir erkennen uns wieder in dem Wirrwarr aus Gefühl und Verstand, in Schnitzlers ambivalenten, sprachgestörten Figuren, die schon längst vor dem Wiener Publikum in die Moderne aufgebrochen sind und Gott, Konventionen, Moral hinter sich gelassen haben. Die Ära des „Ichs“, die Ära der heutigen Selbstbespiegelung, nahm zur Jahrhundertwende ihren Ausgang. Allerdings, was vor hundert Jahren noch Dekadenz, ist heute Mainstream. Ein Grund mehr, wieder Schnitzler zu lesen.

Das Stück ist noch bis 3.3.2013 auf der VBB-Bühne des Stadttheaters Bozen zu sehen: theater-bozen.it

 

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