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July 1, 2012

NatureCulture Special #07: Nicht nur Bäume

Wolfgang Nöckler

Was tust du da, Oma, fragte Felix, als er zu ihr vors Haus trat, wo sie üblicherweise auf einer Bank saß und in die Welt blickte.

Oh, Felix, sagte die Oma und lächelte. Ich schaue. Und du?

Ach, erwiderte der Achtjährige, ich war drin, X-Box-Spielen. Aber ich verliere immer nur. Und Daniel ist so gemein. Was schaust du?

Die Oma lächelte erneut. Die Welt, Felix, da gibt es immer was zum Schauen.

Neben der alten Frau Platz nehmend blickte er in die von ihr angezeigten Richtungen, blickte zum Wald hinüber, auf die Hügel, die sich hinter den Nachbarhäusern erhoben, folgte ihrem Fingerzeig bis hinauf auf die Berggipfel und in den Himmel… Der Junge kniff die Augen zusammen und versuchte, irgendwo da draußen etwas Besonderes zu entdecken, doch offensichtlich gelang es ihm nicht. Schließlich brachte er seine Zweifel zum Ausdruck. Aber da sind ja nur Bäume!

Weißt du, Felix, das sind ja nicht nur Bäume.

Da die Oma schwieg sah Felix ihr lange ins Gesicht, dann zu den Bäumen, dann wieder in Omas Gesicht. Kurz fiel ihm der Ausspruch seiner Mutter ein. Die Oma, sagte sie manchmal mit einem Finger am Kopf, ist hier oben nicht mehr ganz da, weißt du. Doch sogleich vergaß er die Behauptung wieder und er fragte nach: Was sind das denn noch?

Hat dir deine Mama nie von den Antrischn erzählt, Felix?

Der Enkel verneinte.

Und die Oma begann zu erzählen.

Das kommt davon, sagte sie, dass die Kinder heute lieber in den Häusern bleiben. Sie lernen keine Geheimnisse mehr kennen. Die Antrischn, die leben in den Wäldern und in den Hügeln. Hast du nie bemerkt, dass es viele Erdlöcher und Höhlen in den Wäldern hier gibt? Einige davon sind Eingänge zu den Wohnungen der Antrischn.

Und was tun die Antrischn im Wald, wollte Felix wissen.

Die leben da. Sie sind Teil der Natur…

Teil der Natur, wiederholte der Enkel.

Ja, aber die Antrischn, weißt du, sind sehr scheu. So wie Rehe. Man sieht sie fast nie. Aber hin und wieder kann man einen von ihnen entdecken.

Naturgemäß wollte Felix wissen, wie die denn aussehen.

Klein sind sie, nur halb so groß wie die Menschen. Und lange Haare haben sie und sie spüren genau, wenn ihnen jemand etwas Schlechtes will. Dann können sie sich einfach in ein Wesen des Waldes verwandeln. In ein Tier oder einen Baum. Und manchmal, weißt du, wenn du an einen Baum kommst mit besonders langem oder auffälligem Baumbart, vielleicht sind das die Haare einer Antrischn, die sich verwandelt hat damit sie nicht entdeckt wird…

Baumbart, wiederholte Felix, große Augen machend.

Wieso kommst du nicht mehr, fragte Daniel, aus der Tür tretend. Wir können von vorn anfangen mit Mario Cart 3D.

Felix sah seinen Bruder an. Ich bleib lieber hier bei Oma.

Daniel runzelte die Stirn. Wieso?

Felix dachte kurz daran, Daniel von den Antrischn zu erzählen, doch er besann sich ihrer Scheuheit und des mit Oma geteilten Geheimnisses. Wir schauen, sagte er dann.

Was schaut ihr?

Und Felix wies in die Runde, so wie das vor kurzem die Oma gemacht hatte. Daniel aber hatte keine Geduld dafür und meinte nur: ach, ist doch langweilig. Ich geh wieder X-Box.

 

Er ist acht! schrie die Mutter, acht, verdammt noch mal… da kannst du ihm doch nicht solchen Blödsinn in den Kopf setzen!

Ach, jetzt beruhig dich mal wieder, konterte die Oma, früher hat das doch auch niemandem geschadet.

Na du bist mir eine! Seit ein paar Tagen löchert er mich: darf ich in den Wald, Mama? Darf ich, darf ich? Und wenn ich frage, was er da will antwortet er: ach, nur schauen – vielleicht seh ich ja mehr als nur Bäume. Mehr als nur Bäume! Was hast du Felix bloß wieder mal erzählt?

Die Oma versuchte ein Lächeln. Bloß ein paar Geheimnisse, sagte sie.

Die Mutter war außer sich. Geheimnisse? Du bist langsam selbst das größte Geheimnis, also echt!

Während also Oma und Mutter diesbezüglich sehr unterschiedliche Einstellungen hegten verstand Felix die Aufregung nicht ganz. Und er verstand nicht, wieso nicht alle ebenso fasziniert waren von Omas Geschichten wie er selbst. Das konnte, dachte er, nur daran liegen, dass die anderen das Geheimnis nicht kannten. Ohne jedoch Omas Vertrauen zu missbrauchen gelang es Felix, einen seiner besten Freunde, Leon aus der Nachbarschaft, zu animieren, mit ihm die Wälder rund ums Dorf zu durchstreifen. Als jedoch auch Leon sich zu fragen begann, was man denn hier eigentlich wolle verlangte ihm Felix das Versprechen ab, dass er das niemandem verraten würde. Dann begann er: hast du schon mal von den Antrischn gehört?

Den Antrischn?

Ja. Weißt du, nicht viele wissen davon. Es ist ein Geheimnis. Die wohnen hier, im Wald. In der Natur wohnen die.

Leon wollte wissen wo genau und wer die überhaupt seien.

Felix bat um Geduld. Dann erzählte er das, was er von Oma erfahren hatte. Und noch etwas mehr. So konnten manche, wenn man sie richtig fragte, Wünsche erfüllen. Aber man musste natürlich freundlich sein.

Und wieso haben wir noch keinen getroffen, wandte Leon ein.

Weil die so scheu sind. Und weil sich die verwandeln können. Kann gut sein, dass einer hier grad uns sieht, aber wir ihn nicht. Vielleicht ist er jetzt ein Baum und wenn wir weg sind verwandelt er sich zurück in einen Antrischn.

Leon blickte um sich. Skeptisch, doch fasziniert.

Dann strichen die beiden gemeinsam weiter, doch es gelang ihnen nicht, eines dieser wundersamen Wesen zu entdecken. Trotzdem kamen beide sehr aufgeregt – und zu spät fürs Abendessen nach Hause.

Die Angelegenheit schaukelte sich hoch. Mag sein, dass alte Konflikte zwischen Oma und Mutter das ganze größer erscheinen ließen als die Sache gewesen wäre, mag auch sein, dass die Mutter irgendwoher eine ungerechtfertigte Eifersucht hernahm auf die Phantasie ihres Kindes, vielleicht ging es aber auch einfach nur darum, wer das Sagen hatte. Jedenfalls gab es einen Familienrat. Denn als auch die Nachbarin, Leons Mutter, nachfragte was Felix denn für Flausen im Kopf habe und wieso ihr Kind plötzlich so komische Gedanken hege musste etwas geschehen.

Daniel hatte Felix und Oma reden hören. Brühwarm erzählte er davon. Im Wald würden irgendwelche Monster leben und Felix suche die. Bestimmt mit Leon zusammen.

Felix protestierte.

Und die Oma gab ihm Recht. Das seien keinesfalls Monster, höchstens Waldgeister. Imgrunde neutral, weder gut noch böse…

Die Mutter konnte es nicht fassen. Was das solle, man wisse ja, dass alte Leute hin und wieder etwas… aber das könne doch wohl nicht wahr sein… ob sie denn nun endgültig…

Fatalerweise amüsierte die Oma die Angelegenheit eher, als dass sie sich dem allgemeinen Unverständnis anschloss. Was daran so schlimm sein solle, Phantasie habe noch nie jemandem geschadet.

Das wollte die Mutter nicht unterschreiben. Ein bisschen Phantasie sei ja gut und recht. Aber im Wald irgendwelche Sagengestalten zu suchen, das sei doch wohl etwas… nein, so gehe das nicht.

 

Die Mütter von Felix und Leon waren sich einig: der Wald war zu gefährlich. Die Natur, da habe man die Kinder ja nicht unter Kontrolle, nicht im Blick. Viel besser wäre es, wenn sie sich vor dem Fernseher trafen, gemeinsam X-Box spielten.

Doch beide hatten das Interesse daran verloren. Komm, Felix, du kannst die Schildkröte sein, sagte Daniel. Lass uns spielen!

Ich will nicht spielen, erwiderte Felix grantig. Ich geh zu Oma.

Aber du weißt, dass ihr nicht darüber reden dürft, rief Daniel ihm nach.

Felix und seine Oma saßen auf der Bank vor dem Haus. Sie redeten nicht. Aber sie schauten. Auch das zu verbieten hatte die Mutter nicht gewagt. Sie sah es nicht gern. Aber aus der Ferne, dachte sie, hält sich die Gefahr durch die Natur ja in Grenzen…

Hin und wieder hob einer der beiden einen Finger und zeigte dem anderen etwas, dann lächelten sie. Was die beiden bei ihrem Schauen alles entdeckten verrieten sie jedoch niemandem mehr.

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